Neue Studie enthüllt
100 Zwangsheiraten pro Jahr in Österreich
Das Projekt FORMA hat einen Bericht zu Zwangsehen erstellt und fordert bessere Datenerhebung, mehr Beratungsangebote und ein höheres Mindestalter.
Laut internationalen Studien sind mindestens 22 Millionen Menschen weltweit von Zwangsverheiratung betroffen – davon neun Millionen Kinder. Auch in Österreich kommt es dazu – im Inland, aber auch bei Ehen, die bereits im Ausland geschlossen wurden.
Das Projekt FORMA (Forced Marriage, Deutsch: Zwangsehen) hat nun einen Lagebericht zu Österreich erarbeitet. Zwangsehen werden demnach häufig im persönlichen Lebensbereich vorbereitet und durchgeführt, mit vielfältigen Abhängigkeitsverhältnissen, was Erfassung, Opferschutz und Strafverfolgung erschwere.
100 bestätigte Zwangsheiraten pro Jahr
Etwa 100 Fälle soll es demnach jährlich in Österreich geben – die Dunkelziffer sei noch deutlich höher. Das liegt unter anderem auch an der Datenlage. „Am Anfang unserer Arbeit war schnell klar, dass zum Thema Zwangsverheiratungen in Österreich wenig Datenmaterial vorhanden ist", sagt Maryam Alemi von der Rechtsberatung der Caritas der Erzdiözese Wien, die das Forschungsprojekt FORMA leitet. Jene Daten, auf die man zugreifen konnte, waren zudem häufig unvollständig.
Um die Praxissituation zu erheben, wurden Interviews mit NGOs über Behörden bis zu internationalen Organisationen sowie mit Betroffenen geführt. Außerdem habe man rund 370 Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts analysiert und 129 Akten der Frauenberatungsstelle "Orient Express" ausgewertet.
Physische Gewalt in 90 % der Fälle
Orient Express richtet sich an Frauen bei familiären und partnerschaftlichen Problemen, Gewalt und Missbrauch sowie Verwandtschaftsgewalt und beobachtet das Phänomen schon lange. In allen Fällen des Vereins haben Betroffene psychische Gewalt erlebt, in 90 Prozent der Fälle kam es auch zu physischer Gewalt.
So war es etwa bei einer 17-jährigen Betroffenen, die von ihren Eltern zwangsverlobt wurde, als diese von einer heimlichen Beziehung erfuhren. Die junge Frau habe massive physische und psychische Gewalt von ihrem Verlobten und der eigenen Familie erfahren. Nur wenige Wochen vor der geplanten Hochzeit gelang ihr mithilfe ihres Freundes und der Kinder- und Jugendhilfe schließlich die Flucht in eine Schutzeinrichtung.
Laut dem Projektteam sei es schwer, Betroffene zu identifizieren, da sie aufgrund von fehlendem Bewusstsein und Scham oft zögern, Hilfe zu suchen oder gar Anzeige zu erstatten. "Ein wesentliches Element, um Betroffene zu identifizieren und zu schützen, ist eine bereichsübergreifende Zusammenarbeit von Opferschutzeinrichtungen mit unterschiedlichen Akteur*innen wie Jugend- und Sozialarbeit, Strafverfolgung und Justiz, Behörden und dem Gesundheitswesen", so Projektleiterin Maryam Alemi.
Forderungen des Expertenteams
An dem Bericht arbeiteten Expertinnen und Experten des Ludwig Boltzmann Instituts für Grund- und Menschenrechte, der Universität Wien, des Vereins Orient Express sowie der Rechtsberatung der Caritas der Erzdiözese Wien mit. Sie fordern einen bundesweiten Ausbau von niederschwelligen Anlaufstellen zentral, wo mehrsprachige psychosoziale Beratung angeboten werden kann. Idealerweise sollen Betroffene auch verstärkt die Möglichkeit erhalten, Unterstützungsangebote aktiv mitzugestalten.
Um Zwangsehen vorzubeugen, brauche es vor allem mehr Aufklärung und Bewusstseinsarbeit, insbesondere bei jungen Menschen. Weiters brauche es genaue Aufzeichnung und bessere Datenerhebung, um zu sehen, wie weit das Phänomen in der Gesellschaft verbreitet ist und dagegen Maßnahmen zu setzen.
Das Projektteam erachtet darüber hinaus eine verstärkte Zusammenarbeit von Opferschutzeinrichtungen und Schulen als wichtigen Schritt. "In Übereinstimmung mit internationalen menschenrechtlichen Standards empfehlen wir auch dringend, das Mindestalter für Eheschließungen auf 18 Jahre anzuheben und Beratungsangebote für Ehekandidat*innen auszubauen, damit sie mehr über rechtliche Gegebenheiten erfahren", betont Helmut Sax vom Ludwig Boltzmann Institut.