Noch nicht erklärbar
0,2-Grad-Lücke in Klima-Modellen gibt Rätsel auf
Die Erde ist 0,2 Grad heißer, als Klima-Modelle es eigentlich voraussagen würden. Wie es dazu kommen konnte, ist für die Wissenschaft noch ein Rätsel.
Der extreme und teils unerklärliche Anstieg der Temperaturen in den Ozeanen scheint vorerst ein Ende zu haben. In der zweiten Jahreshälfte dürften sie sich auf Rekordniveau des Vorjahres stabilisieren. Zu diesem Ergebnis kommen Wissenschaftler auf Basis der neusten Messungen.
"Es ist in keinster Weise eine Entwarnung", sagten die Klimaforscher Helge Gößling am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhafen und auch Marc Olefs von der GeoSphere Austria am Dienstag im ORF-Radio Ö1. Die beobachtete natürliche Schwankung gehe nun zwar etwas zurück, "aber wir sind immer noch über dem, was wir eigentlich so erwarten würden."
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Vier mögliche Ursachen
Die tatsächlich gemessenen Temperaturen liegen aktuell etwa 0,2 Grad Celsius im globalen Mittel über den Prognosen der Klimamodelle. "Klingt zwar wenig, ist aber tatsächlich eine ganze Menge", weiß Gößling. Diese Lücke – sie befindet sich noch innerhalb der Schwankungsbreite – gibt nun Rätsel auf, denn eine einfache Erklärung oder eine definitive Ursache hat die Wissenschaft noch nicht ausgemacht.
Auf der Liste der möglichen Ursachen stehen aber noch einige weitere Verdächtige:
Schadstoffverbot in der Schifffahrt. Seit 2020 gilt ein Reinhaltungsgebot für die internationale Schifffahrt, die zuvor große Mengen an klimakühlenden Aerosolen ausgestoßen hatte. Das macht zwar den Warentransport über die Ozeane sauberer, die bessere Luftqualität geht aber mit einer Erwärmung einher. Die für uns gesundheitsschädlichen Schwefelpartikel, die auch zu saurem Regen führen können, hatten nämlich einen kurzfristig kühlenden Effekt, da sie einen Teil des Sonnenlichts zurück ins All reflektieren.
Klimadynamiker Gößling ist überzeugt, dass dies einen Teil der Temperatur-Lücke erklären kann: "Ja, das kann einen Beitrag gehabt haben, aber eher ein Viertel dieses Effekts vielleicht. Wir reden da von sowas wie einem Zwanzigstel Grad".
Ausbruch des Hunga Tonga-Hunga Ha’apai. Vulkanausbrüche an Land haben durch die ausgestoßene Asche und Schwefelverbindungen (siehe Schifffahrt oben) typischerweise eher eine kühlende Wirkung, beim Hunga Tonga war dies aber anders. Die Eruption des Unterwasservulkans am 14. und 15. Januar 2022 schleuderte statt Asche enorme Mengen Wasserdampf bis zu 50 Kilometer hoch in die Stratosphäre. In dieser oberen Schicht der Atmosphäre wirkt Wasserdampf als Treibhausgas.
Hunga Tonga-Ausbruch veränderte 2022 das Weltklima
Mehrere wissenschaftliche Studien haben sich seither mit den Auswirkungen beschäftigt. Der Tenor ihrer Berechnungen: Ja, der Ausbruch des Hunga Tonga dürfte unmittelbar zur weltweiten Erwärmung beigetragen haben. Dies aber wohl nur in geringem Maß und vor allem nicht nachhaltig, sondern eher nur über wenige Jahre hinweg.
Stärkere Schwankungen des Globalen Förderbandes. Die Thermohaline Zirkulation, eine weltweite Umwälzbewegung der Ozeane – der Golfstrom ist ein kleiner Teil davon – könnte ebenfalls stärkeren Schwankungen unterliegen, als bisher gedacht.
Veränderungen in der Wolkendecke. Ebenso noch nicht völlig erforscht sind die Auswirkungen der Wolkendecke, die durch die Erwärmung in den unteren Luftschichten abnimmt. "Da gibt es bei den Rekorden in den letzten Jahren erste Anzeichen, dass ein Wolkenrückgang eine Rolle gespielt haben könnte", konstatiert der AWI-Forscher. Auch Olefs, der Leiter der Klimaforschung der GeoSphere Austria, bestätigt die Beobachtung einer Abnahme der Wolkendecke in weiten Teilen Europas.
Diese Unsicherheiten zeigen, wie komplex die Wechselwirkungen und Einflüsse auf das Weltklima sind. Die beobachtete Differenz bedeute, dass die Wissenschaft aus diesen Messdaten lernen werde und die Klimamodelle entsprechend anpassen müsse, so der Wiener Forscher.
"Notwendiges und wichtiges Werkzeug"
Mit Blick auf die noch unerklärte 0,2-Grad-Lücke, warnt er aber davor "unerfüllbare Erwartungen" an die Klimamodelle zu haben. Diese seien nicht dazu gemacht worden, um Einzeljahre samt aller natürlichen Klimaschwankungen, sondern um die langfristige Klimaentwicklung abzubilden.
"Die globalen Klimamodelle reproduzieren sehr gut die beobachtete Beschleunigung der Erderhitzung und auch das Jahr 2023 ist noch innerhalb der Bandbreite dieser verschiedenen Modelle", so Marc Olefs weiter. Er bezeichnet die Modelle als "notwendiges und wichtiges Werkzeug", um gesellschaftliche Entscheidungen auf Fakten zu gründen.
Und: Selbst wenn die Erwärmung nun eine Pause einzulegen scheint, brauche es weiterhin weltweite Anstrengungen im Klimaschutz. "Die wichtige Schlussfolgerung für die Menschheit ist, aus den fossilen Energieträgern auszusteigen".
"Bei all diesen natürlichen Klimaschwankungen dürfen wir nicht vergessen, dass der Hauptantrieb für die beobachtete Erderwärmung die menschengemachten Treibhausgas-Emissionen sind, die die Erde seit vorindustrieller Zeit bereits um 1,5 Grad erwärmt haben." Diese gelte es, möglichst rasch zu bremsen.