Ukraine
Unzensierter Militärexperte schockt Russen im Staats-TV
Mit erstaunlicher Klarheit konnte der frühere Offizier Michail Chodarenok im russischen Staats-TV ein desaströses Lagebild im Ukraine-Krieg zeichnen.
Im sonst so streng kontrollierten russischen Staatsfernsehen kam es kürzlich zu außergewöhnlichen Szenen. In einem der wichtigsten Talk-Formate Russlands brach ein russischer Ex-Militär bei seiner Einschätzung zur Lage in der Ukraine nicht nur komplett mit der Kreml-Propaganda, sondern zeichnete auch ein verheerendes Bild für sein eigenes Land.
Offiziell läuft für die Russen die "Spezialoperation" – die Invasion wird weiterhin nicht als Krieg bezeichnet – weiter nach Plan. Der frühere Generalsstabsoffizier Michail Chodarenok, der mittlerweile als Militäranalyst und Journalist arbeitet, räumte mit dieser Dauerstellung bei seinem bemerkenswerten Auftritt im Putin-Sender Rossiya-1 auf.
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Russen werden belogen
BBC-Journalist Steve Rosenberg teilte einen Mitschnitt davon auf Twitter. Darin warnt Chodarenok vor Millionen-Publikum davor, sich nicht von der Kreml-gesteuerten Berichterstattung im Land betäuben zu lassen.
"Die Situation [für Russland] wird sicher noch schlechter werden", sagte er mit Verweis auf die kontinuierlichen Waffenlieferungen des Westens. Damit könnte die ukrainische Armee bald "eine Million Menschen bewaffnen". Und diese seien bereit, damit den Russen entgegenzutreten.
"Ihr Wille, ihr Heimatland zu verteidigen, ist immer noch vorhanden". Chodarenok: "Der ultimative Sieg auf dem Schlachtfeld wird von einer hohen Moral der Truppen bestimmt, die für ihre Ideale kämpfen und Blut vergießen."
Man müsse sowohl militärisch als auch politisch immer realistisch bleiben. "Sind wir das nicht, dann wird uns die Realität früher oder später so hart treffen, dass wir nicht wissen wie uns geschieht."
"Die ganze Welt ist gegen uns"
Den Russen, so Chodarenok weiter, müsse klar werden, dass etwas falsch laufe. Russland sei "geopolitisch komplett isoliert", auch die weitere Unterstützung durch Indien und China sei kein Freundschaftsdienst.
"Die Situation kann nicht normal sein, wenn es eine Koalition aus 42 Ländern gegen uns gibt". Der Analyst schlägt mit ernüchternden Worten um sich: "Die ganze Welt ist gegen uns, auch wenn wir das nicht zugegeben wollen. Wir müssen dieses Problem lösen."
Währenddessen herrschte seitens der anderen Gäste Totenstille im Studio. Selbst Moderatorin Olga Skabejewa, sonst voll auf Kreml-Linie und bekannt für ihre flammenden Pro-Putin-Plädoyers, soll laut BBC-Bericht erstaunlich zurückhaltend gewesen sein. Zwar versuchte sie mit einigen Einwürfen, die vernichtenden Aussagen des Experten zu verdrehen, viel hatte sie ihm aber nicht entgegenzusetzen.
Erst nach rund sechs Minuten auf Sendung würgte Skabejewa ihren Studiogast mit einer langen Propaganda-Worthülse endgültig ab: "Wir waren gezwungen, das zu tun. Unsere ureigenste Existenz steht auf dem Spiel. Kapitulation ist nicht möglich. Einen Dialog mit jenen, die uns von der Bildfläche verschwinden lassen wollen, zu finden, ist unmöglich. Wir müssen diesen Weg bis zum Ende gehen. Wir werden das Ziel erreichen, unsere große Nation wird gewinnen."
Wird Putins Zensur-Netz löchrig?
Dass Chodarenok so unzensiert mit Kritik an der Invasion im russischen TV auftreten kann, ist ungewöhnlich. Normalerweise hält Putin die Medien an äußerst kurzer Leine. Medien, die gegen die Linie der Regierung berichten, werden abgedreht. Unabhängigen Journalisten drohen hohe Haftstrafen.
Was ist da also passiert? War es wirklich ein spontaner Kontrollverlust der Zensoren, oder war auch dieser Auftritt bereits vom Kreml eingeplant, um die Bevölkerung auf womöglich folgende schlechte Nachrichten zur "Spezialoperation" vorzubereiten? Diese Fragen kann wohl außerhalb des Kremls niemand beantworten.
Zumindest eines ist klar: Chodarenok war bereits vor diesem Auftritt als Kritiker bekannt. Er hatte schon im Februar – noch vor dem Überfall – allen den Kopf gewaschen, die davon ausgingen, dass die Putin-Panzer die ukrainische Armee ohne viel Gegenwehr einfach überrollen könnten: "Ein bewaffneter Konflikt mit der Ukraine ist nicht im nationalen Interesse Russlands."