"Mein kranker Bruder bekam die Todesspritze"
Anni Honus' älterer Bruder wurde aufgrund seiner Krankheit von Nachbarn in Niederösterreich angezeigt, musste in ein Heim und wurde schließlich von den Nazis mit einer Giftspritze ermordet. Offizielle Diagnose: Lungenenentzündung. Ein Gespräch mit Maria Jelenko-Benedikt.
Ich besuche Anni Honus an einem heißen Sommertag in ihrem Häuschen in der Nähe von Wien, wo sie alleine lebt, sich um den Haushalt kümmert.
Die 93-Jährige erzählt vom tragischen Schicksal ihres um ein Jahr älteren Bruders Hansi, der an den Folgen einer Enzephalitis (Gehirnentzündung) litt, die damals in vielen Fällen tödlich endete. Hansi jedoch überlebte die Krankheit, konnte gehen, sprechen, zeichnen, ja, sogar ein bisschen schreiben.
Seine Beeinträchtigung sah man ihm aber offensichtlich an. Bei Hitlers Einmarsch in Österreich sind die Eltern mit Anni, ihrer Zwillingsschwester Liese und Hansi von Wien aufs Land gezogen – die Familie wollte möglichst weit weg von den politischen Vorkommnissen sein – "Wir waren gegen das Regime".
Doch eine Nachbarin zeigte den Bruder an, "weil er als 'Schwachsinniger' im Garten herumgelaufen ist", erzählt Honus. "Weil wir ja gegen die Nazis waren, hat man noch mehr geschaut", erinnert sich die 93-Jährige an die heikle Situation, in der sich die ganze Familie durch Hansis Krankheit befand.
Hansi kam in ein Kinderheim, die ganze Familie musste sich Tests unterziehen, um zu beweisen, dass Eltern und Geschwister nicht "erblich belastet" waren. Von da an begann für die Mutter, eine ausgebildete Heilpädagogin, eine rastlose Flucht, sie schaffte ihren Sohn von einem Heim ins andere.
Denn: "Kinderheime und Heime mit behinderten Kindern wurden systematisch aufgelöst", erzählt Honus. Die Kinder "verstarben" auf mysteriöse Weise – in Wahrheit fielen sie dem Euthanasieprogramm der Nazis zum Opfer, bekamen Todesspritzen oder wurden vergast.
Immer, wenn sie über Kollegen von der "Auflösung" eines Heims erfuhr, holte die Mutter Hansi panisch ab, ließ ihn in ein anderes Heim verlegen. "Sonst wäre er schon früher vergast worden", ist sich Honus heute sicher. So lernte die Mutter die grausamen Methoden des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms
kennen, hatte in Steinhof auch Experimente an Patienten durch Ärzte beobachtet.
"Sie wurden mit Elektroschocks oder durch Versetzen in einen dem Ertrinken ähnlichen Zustand in Todesangst versetzt." Man wollte testen, ob man Patienten auf diese menschenunwürdige
Weise heilen konnte. Schließlich landete Hansi in einem Heim in Neulengbach, wo er einige Jahre blieb. Dort ging es ihm gut, er entwickelte sich zu einem jungen Mann, der gerne und gut zeichnete.
Doch dann, im Jahr 1945, erhielt die Familie plötzlich die Todesnachricht. Offizielle Sterbeursache: Lungenentzündung.
Hansi war damals fast 18 Jahre alt: "Dort sind auf einmal sieben Leute gleichzeitig an einer Lungenentzündung gestorben!", ist Frau Honus immer noch fassungslos.
"Der Heimleiter, dessen Mutter ebenso plötzlich verstorben ist, hat mir danach erzählt, dass der Arzt den Patienten eine Spritze gegeben hat. Kurze Zeit später sind alle krank geworden und
anschließend gestorben." Gegen Kriegsende hatten die Nazis noch schnell alle zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Heim-Insassen ermordet, machten auch keinen Halt vor Heimen mit "schwer erziehbaren Kindern".
"Zum Schluss haben keine Heimkinder mehr überlebt", erinnert sich Honus an die schreckliche Zeit. "Wusste die Bevölkerung denn, was in diesen Heimen tatsächlich vor sich ging?" "Ich glaube, viele wussten es nicht genau. Vieles wurde ja damals verheimlicht, verschönt. Jene, die gegen Hitler waren, ahnten, was dort passierte, manche wussten auch genauer Bescheid."
Honus erzählt auch von Menschen, die damals Verfolgte schützten, wie etwa ihr Onkel, ein Arzt: "Er hat einen jüdischen Buben jahrelang bei sich zu Hause versteckt. Ich besuchte ihn manchmal heimlich. Einmal ist er auf die Straße gegangen, wurde
von SSlern angehalten, flüchtete. Doch der Bub überlebte, wurde
selber Arzt und lebt heute noch.
Das Interview ist Teil einer Zeitzeugen-Serie. Alle Zeitzeugen-Gespräche finden Sie auf www.heute.at/zeitzeugen
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