Nicht im Gesetz enthalten
Wegen Adoption: Keine Rente für missbrauchten Wiener
Christian S. wurde als Bub von Priestern und Kirchenangehörigen missbraucht – auch im Ferienlager. Trotzdem erhält er keine Heimopferrente.
Zwang und Gewalt durchziehen das Leben von Christian S. (Name geändert) wie ein roter Faden: Der gebürtige Wiener (59 Jahre) wurde im Alter von sechs Jahren von seinen Pflegeeltern unfreiwillig adoptiert, von der Adoptivmutter geschlagen und später von Priestern und Kirchenangehörigen jahrelang missbraucht: "Ich wurde immer als Lügner dargestellt", erzählt er im Gespräch mit "Heute".
Als der Wiener zwei Jahre alt war, ließen sich seine Eltern scheiden. Christian S. kam zu Pflegeeltern nach St. Pölten (NÖ): "Ich weiß allerdings nicht, wie alt ich da war. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern."
Missbrauch begann im Alter von elf Jahren
Die Pflegeeltern, die selbst mehrere leibliche Kinder und noch ein weiteres Pflegekind hatten, adoptierten den Wiener im Alter von sechs Jahren: "Ich vermute aus finanziellen Gründen", meint Christian S. Während die leiblichen Kinder laut dem 59-Jährigen "unantastbar" waren, galt er als psychisch auffällig, wurde gedemütigt und verprügelt.
1976, als der Wiener elf Jahre alt war, starb sein Adoptivvater – ein Tischler – und der sexuelle Missbrauch begann: "Meine Adoptivmutter war sehr religiös. Sie hat mich gezwungen, die Gottesdienste zu besuchen und auch auf Ferienlager mitzufahren. Der erste Übergriff war im Beichtstuhl bei meiner Beichte", erinnert sich Christian S.
Charity Event zur Unterstützung für Opfer von Missbrauch & Gewalt
„Jedes Kind wurde allein in ein Zimmer geschickt. Dort warteten dann mindestens zwei Männer und haben uns missbraucht“
Laut dem Wiener wurden er und andere Buben auch "an andere Priester und Privatpersonen weitergereicht": "Sie haben immer gesagt, dass sie mit uns 'spielen' wollen." Im Sommer des gleichen Jahres musste Christian S. zudem auf ein zweiwöchiges Ferienlager der Kirche mitfahren: "Ich bin schon begrapscht worden, bevor der Bus noch losgefahren ist. Offiziell nannten sie es ein Zeltlager. Es war aber ein Vierkant-Bauernhof. Wir waren etwa 20 bis 30 Buben. Jedes Kind wurde allein in ein Zimmer geschickt. Dort warteten dann mindestens zwei Männer und haben uns missbraucht."
Wie Christian S. berichtet, waren am Bauernhof auch fremdsprachige Männer, die nicht aus dem kirchlichen Umfeld stammten, anwesend: "Zum Schluss gab es dann ein Abschiedstreffen im großen Saal – alle waren nackt, wir und die Männer."
Hilferuf wurde mit Prügel bestraft
Drei weitere Jahre wurde der Wiener noch gezwungen, an diesen Ferienlagern teilzunehmen. Als er sich mit 12 Jahren einem Polizisten anvertraute, hatte dies schlimme Folgen: "Ich habe ihm erzählt, was die Pfarrer mit uns machen. Er hat mir eine Watsche gegeben und gemeint, dass ich keine Lügen erzählen soll. Er hat mich dann zu meiner Adoptivmutter gebracht, die hat mich dann 30 Minuten lang mit dem Teppichklopfer geschlagen", so Christian S.
Mit 15 Jahren begann der Wiener dann eine Lehre, konnte so die Teilnahme an den Ferienlagern verhindern: "Erst da habe ich erfahren, dass ich eigentlich adoptiert bin. Davor habe ich immer geglaubt, dass das meine leiblichen Eltern sind."
Die Bilder des Tages
25.000 Euro von der Stiftung Opferschutz
An seinem 18. Geburtstag verließ Christian S. das Haus seiner Adoptivmutter und kehrte nie wieder zurück: "Seit damals habe ich keinen Kontakt mehr zu ihr." Seinen Beruf als Schildermaler musste er an den Nagel hängen, da er extrem allergisch auf die höchst aggressiven Farben reagierte.
Es folgte eine beruflich unruhige Zeit: Der 59-Jährige war etwa als Lagerarbeiter tätig, zog nach einer Tischler-Ausbildung nach Wien um und absolvierte dort einen Buchhaltungs-Crashkurs. Doch die traumatischen Kindheitserlebnisse ließen Christian S. nie los: "2011 habe ich mich dann bei der Stiftung Opferschutz der katholischen Kirche (Klasnic-Kommission, Anm.) gemeldet. Sie haben mir 25.000 Euro und 100 Therapiestunden zugesprochen."
Antrag auf Heimopferrente abgelehnt
Ende 2022 beantragte der Wiener dann bei der Pensionsversicherungsanstalt (PV) eine Heimopferrente. Diese beträgt 403,10 Euro monatlich, Voraussetzung dafür ist die Entschädigung einer Opferschutzeinrichtung. Sie wird Opfern von Missbrauch und Gewalt in einem Kinder- oder Jugendheim, Internat, einer Kranken-, Psychiatrie- oder Heilanstalt oder bei einer Pflegefamilie zugesprochen.
Doch die PV lehnte den Antrag ab, der Fall ging vor Gericht. Das Erstgericht gab der Klage von Christian S. – rechtlich vertreten von Rechtsanwalt Wulf Kern – statt, doch das Zweitgericht wies sie ab. Die Begründung: "Der Kläger falle als adoptiertes Kind zum Zeitpunkt der ihm widerfahrenen außerordentlichen Gewalt aus dem geschützten Personenkreis, Adoptivkinder seien vom Heimopferrentengesetz nicht erfasst."
„Die Kirche stuft mich als Opfer ein, aber der Staat nicht?“
Auch der Oberste Gerichtshof (OGH) schloss sich dieser Rechtsmeinung an. Für Christian S. völlig unverständlich: "Es geht nicht ums Geld – das hat mich nie interessiert. Ich will eine Anerkennung oder eine Art Eingeständnis vom Staat haben, dass sie damals so versagt haben. Die Kirche stuft mich als Opfer ein, aber der Staat nicht?", fragt sich der 59-Jährige.
Auch für Jurist Kern ist das Urteil nicht nachvollziehbar: "Leider hat die Pflegefamilie einen anderen Stellenwert als die Adoption. Es handelt sich hier meiner Meinung nach um eine Gesetzeslücke. Denn Herr S. wollte ja gar nicht adoptiert werden. Zudem gab es nur die Zustimmung der leiblichen Mutter dazu, aber nicht die des leiblichen Vaters."
Dauer der Fremdunterbringung
Auch die Länge der Fremdunterbringung sei diskussionswürdig: Denn laut OGH sei der 14-tägige Ferienaufenthalt nicht als länger dauernde Fremdunterbringung einzustufen: "Die Frage ist: Wie lange genau muss der Zeitraum sein? Schließlich wurde Herr S. viermal je zwei Wochen lang in dem Ferienlager missbraucht", so Kern abschließend.