Wegen Palästina
Warum auf Tiktok Osama Bin Laden jetzt "ein Guter" ist
Bin Laden, der Chef der Terrororganisation al-Qaida, erlebt in den sozialen Medien gerade ein Revival. Er wird als "Befreier Palästinas" gefeiert.
Der Krieg zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas spaltet die Gesellschaft. In den sozialen Medien widerspiegelt sich das unheimlich deutlich, mit eskalierender Rhetorik und Ressentiments. Selbst Osama Bin Laden, der 2011 getötete Chef der Terrororganisation al-Qaida, erlebt ein Comeback – beziehungsweise sein "Brief an das amerikanische Volk".
Jetzt trendet der Brief von 2002 auf Tiktok und wird von Tausenden Nutzern bejubelt. Darin rechtfertigt Bin Laden die Anschläge vom 11. September mit fast 3000 Toten. Gerade Bin Ladens Ausführungen zu Palästina stoßen auf Widerhall.
"Mir wurden die Augen geöffnet"
Demnach hätten Juden kein historisches Recht auf ein eigenes Land und die Gründung Israels sei ein Verbrechen, das gerächt werden müsse. "Jeder Einzelne (...) muss den Preis dafür zahlen, und zwar schwer", schrieb Bin Laden. Die USA seien ohnehin von Juden beherrscht, die ihre Politik, ihre Medien und ihre Wirtschaft kontrollierten.
Die Botschaft Bin Ladens scheint etliche Tiktok-User in eine regelrechte Sinnkrise zu stürzen: Sie vollziehen die Argumente des Terrorchefs offensichtlich nach und rücken Bin Laden in ein neues, positives Licht. "Mir wurden die Augen geöffnet", meint ein Nutzer, ein anderer nennt das Schreiben "das Wichtigste, das du in deinem Leben lesen wirst".
Antisemitische Wendungen und Hass
Dass der Brief mit antisemitischen Wendungen und Hassreden durchsetzt ist – für Bin Laden ist Homosexualität "unmoralisch" und die Krankheit Aids "eine satanische amerikanische Erfindung" –, fällt gänzlich unter den Tisch.
Nicht alle fallen in den Jubel rund um die Ansichten des al-Qaida-Führers ein. "Die wenigsten haben den Brief offenbar bis zu Ende gelesen", schreibt Journalist Konstantni Nowotny auf X. "Sie sind aber ob Bin Ladens 'Einsatz' für Palästina offenbar überzeugt davon, dass er 'zu den Guten' gehört."
"Er war nicht besonders an Palästina interessiert"
Die chinesische Plattform Tiktok entwickle sich offensichtlich "im Schnellverfahren zu einer Verschwörungsschleuder epischen Ausmaßes", so Nowotny, der anfügt: "Dark, dark times."
Auch Terrorexperte Peter Neumann meldet sich zu Wort und ordnet ein. "Alles in allem gibt es keinen Grund zu glauben, dass Osama Bin Laden besonders an der Befreiung Palästinas interessiert war", schreibt Neumann auf X. "Und noch weniger gibt es einen Grund, warum ein Salafisten-Jihadist, der Tausende von unschuldigen Menschen getötet hat, ein Held für junge Progressive sein sollte."
Umstrittene Löschung des Osama-Briefs
Dass der Brief des al-Qaida-Chefs nach über zwanzig Jahren ein Revival erfährt, hat auch damit zu tun, dass das erste Google-Suchergebnis auf die Website des britischen "The Guardian" führt, die den Brief dort seit 2002 publiziert hat.
"Sie wollen, dass wir unwissend bleiben"
Am Mittwoch war der Text aufgrund des hohen Interesses in den sozialen Medien mitunter die meistgesuchte Geschichte – doch dann entfernte die Zeitung den Brief ohne Begründung.
Erboste Reaktionen waren die Folge: "Sie wollen wirklich, dass wir unwissend bleiben", schreibt ein Tiktok-User. "Zum Glück können sie unsere Erinnerungen nicht löschen oder unsere weitere Radikalisierung rückgängig machen", schrieb ein X-Nutzer.
"Ohne den vollständigen Kontext verbreitet"
Auf eine Anfrage von "20 Minuten" nach dem Grund der Löschung antwortete ein Sprecher des Portals: "Das 2002 auf unserer Website veröffentlichte Transkript wurde in den sozialen Medien ohne den vollständigen Kontext verbreitet. Daher haben wir beschlossen, es zu entfernen und die Leser stattdessen auf den Nachrichtenartikel zu verweisen, in dem es ursprünglich enthalten war."