Handelspolitik
"War lange viel zu naiv" – Minister hat düstere Warnung
Wirtschaftsminister Martin Kocher sieht Europa im Welthandelsgefüge auf den absteigenden Ast rutschen. Österreich droht ein Wohlstandsverlust.
Martin Kocher hat seine akademische Vergangenheit auch als Spitzenpolitiker nicht abgelegt. In einer am Sonntag veröffentlichten Abhandlung über den "fragmentierten Welthandel" spricht der ehemalige Uni-Professor für Verhaltensökonomik mit Schwerpunkt Wirtschaftspolitik und wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Höhere Studien (IHS) nun eine deutliche Warnung aus: "Europa war lange viel zu naiv" auf der Bühne des Welthandels und könnte ohne Gegenmaßnahmen einen starken Wohlstandsverlust erleiden.
Auf seinem sonst eher sporadisch bespielten privaten Blog veröffentlicht Kocher, wenngleich auch als Bundesminister für Arbeit und Wirtschaft, nun drei Empfehlungen für eine zukunftsorientierte EU-Handelspolitik.
Seine Überlegungen zur aktuellen Situation beginnt er mit einem grundsätzlichen Plädoyer für internationalen Freihandel: "Freihandel erhöht praktisch immer den Wohlstand."
Kochers Argumente gegen Zölle
Zölle könnten zwar einzelne Branchen und Wirtschaftszweige schützen und somit die dort Beschäftigen besser stellen, doch "für die Kosten kommen dann aber alle Konsumentinnen und Konsumenten auf", führt Kocher aus.
Auch sogenannten Entwicklungszöllen kann er nicht viel abgewinnen. Diese werden von Staaten verhängt, wenn sie einen Industriebereich entwickeln und vor billigeren Importen aus dem Ausland schützen wollen.
„Insgesamt 'gewinnen' die Konsumentinnen und Konsumenten bei der Abschaffung von Zöllen und anderen Handelshemmnissen“
In der Realität habe sich gezeigt, dass solche Zölle länger als förderlich aufrecht erhalten würden und die so behüteten Industrien wegen des fehlenden Konkurrenzdrucks ineffizient würden. Die so lädierte Wettbewerbsfähigkeit führe dann schlussendlich doch zum Niedergang der beschützen Unternehmen. International tätige Unternehmen wären außerdem im Durchschnitt produktiver und erfolgreicher.
Seine Ausführungen fasst der Doppel-Minister mit wenigen Kernsätzen zusammen: "Insgesamt 'gewinnen' die Konsumentinnen und Konsumenten bei der Abschaffung von Zöllen und anderen Handelshemmnissen mehr als die Produzenten und damit die Beschäftigten in den vermeintlich geschützten Bereichen 'verlieren'" und "Internationaler Wettbewerb führt [...] zu stärkeren Unternehmen, die auch höhere Löhne zahlen."
Der Wind hat sich gedreht
Aufgrund dieser Erkenntnisse seien seit Mitte 1990ern auch im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO weltweit Zölle und Handelsbarrieren abgebaut worden. Allerdings waren die Mechanismen, die schädliche Dumping-Preise verhindern sollen, nur mäßig wirksam – auch die wichtige Streitbeilegung im WTO-Rahmen sei durch US-Versäumnisse in den letzten Jahren stark eingeschränkt gewesen, schildert der Ökonom die vergangenen Entwicklungen.
„Für Österreich [...] ist das eine bedenkliche Entwicklung.“
Inzwischen gebe es sogar eine Gegenbewegung. Großen Wirtschaftsräume würden ihre Schutzschranken wieder hochfahren, während gleichzeitig aufstrebende Entwicklungsländer wie Indien oder Südafrika kein Interesse an der Hochhaltung eines freien, fairen und regelbasierten Welthandel hätten, sagt Kocher.
"Für Österreich als im internationalen Vergleich relativ kleines Land, das stark exportorientiert ist, ist das eine bedenkliche Entwicklung." Doch nicht nur für unsere Alpenrepublik ist das ein Problem, sondern für ganz Europa.
Europas Autonomie in Gefahr
Genau hier setzt der Arbeits- und Wirtschaftsminister mit seiner harschen Kritik und Warnung an: "Europa war lange viel zu naiv, was seine Interessen im Gefüge des Welthandels betrifft." Jahrzehntelang habe man es verabsäumt die WTO schlagkräftiger zu machen und es nicht geschafft, die Gefahren für die strategische Autonomie Europas einzudämmen.
"Nach und nach verlagerte sich die Produktion von strategisch wichtigen Produkten – Wirkstoffe, Medikamente, Solarpaneele, Wechselrichter, etc. – weg von Europa", zählt Kocher auf. Mit der Folge, dass chinesische Produzenten schon de facto ein Monopol etwa auf Solarpaneele hätten. Eine ähnliche Entwicklung drohe nun bei E-Autos.
"Diese Entwicklungen bergen die Gefahr von zunehmenden Handelskonflikten, begleitet von Subventionswettläufen oder Zollerhöhungen." Ausbaden müssten dies immer die Konsumenten.
„Wenn das alle versuchen, endet es in einer protektionistischeren, ärmeren Welt“
Politisch stünden die Regierungen aber vor einem Dilemma: "Alle profitieren vom fairen und freien Handel, aber einzelne Staaten können sich auf Kosten anderer einen Vorteil verschaffen; wenn das aber alle versuchen, endet es in einer protektionistischeren, ärmeren Welt, mit weniger Wertschöpfung und weniger Arbeitsplätzen und damit weniger Wohlstand für alle."
Drei Säulen für eine neue Handelspolitik
Der Weg aus dieser Krise? Kocher sieht eine neue europäische Handelspolitik auf drei zentralen Säulen aufbauend:
WTO neu denken. Diese müsse wegkommen von "großen, schwerfälligen, multilateralen Verhandlungen, die keine Fortschritte mehr bringen". Gleichzeitig müsse die Europäische Union wie bisher auf moderne und weitreichende Handelsabkommen mit strategischen Partnern auf der ganzen Welt setzen.
Gezielte Antworten. Das WTO-Regelwerk müsse künftig die Basis bieten, etwa protektionistische Maßnahmen von Drittstaaten reagieren zu können, "ohne damit Handelskriege anzuzetteln". Als aktuelle Beispiele nennt Kocher mutmaßliches Dumping oder Exportsubventionen bei Elektroautos aus China.
"Gleichzeitig wird auch die EU bei Subventionen und Produktregeln stärker auf Nachhaltigkeit schauen müssen, ohne dabei protektionistisch zu sein", so der Wirtschaftsexperte weiter. Das könne etwa durch eine schrittweise Erhöhung des Anteils an verbautem grün-zertifiziertem Stahl bei in der EU zugelassenen Autos passieren. Davon würden innovative, zukunftsorientierte Stahlunternehmen, profitieren – egal wo sie produzieren.
„Europa war und ist der Motor für die weltweite Handelspolitik.“
Besseres Verständnis. Als dritte Säule brauche es aus Kochers Sicht ein "viel besseres Verständnis für die wechselseitigen Abhängigkeiten im internationalen Handel entlang der Wertschöpfungsketten" – von den Maschinen in der Produktion angefangen bis hin zu den fertigen Produkten. Österreich habe im gegenständlichen Forschungszweig mit dem Austrian Supply Chain Intelligence Institute (ASCII) bereits eine Vorzeigeinstitution.
Der Minister wünscht sich darüber hinaus eine "Stärkenlandkarte Europas". Diese solle die wechselseitigen Abhängigkeiten hervorheben, die besonders zwischen Europa und China bestünden und ein "gedeihliches, konfliktfreies, aber faires Handelsverhältnis indizieren". Ein jeder fahrlässig ausgelöster Konflikt berge dabei "potentiell hohe Kosten für beide Seiten". WTO-Konformität sei dafür aber Voraussetzung.
Kochers Schlusssatz: "Europa war und ist der Motor für die weltweite Handelspolitik. Diese Verantwortung anzunehmen und diese Rolle auch aktiv einzunehmen, wird auch in Zukunft wichtig sein."