Ukraine
Ukrainische Armee kämpft mit eigenem Sowjet-Erbe
Klagen von Soldaten und Kämpfern an der ukrainischen Ostfront zeigen: Das Sowjet-Erbe belastet auch die ukrainischen Streitkräfte schwer.
"20 Minuten"-Kriegsreporterin Ann Guenter berichtet regelmäßig aus der Ukraine. In ihrer jüngsten Reportage beschäftigt sich die Schweizer Journalistin mit dem Regiment "Dnjpro" und dem sowjetischen Erbe, das vor allem auf ideeller Ebene innerhalb der ukrainischen Streitkräfte für schwere Probleme sorgt:
Seit gut zehn Tagen trainieren in den Baracken eines Sommerlagers in der Zentralukraine 150 neue Freiwillige aus der Region. Es sind Holzverarbeiter, Autoverkäufer und Mitarbeiter von Ukrsalisnyzja, dem ukrainischen ÖBB-Pendant.
Jetzt wollen sie in die Reihen der Infanterie- oder Drohneneinheit vom Regiment "Dnjpro" aufgenommen werden. Das habe auch mit Kommandant Yuriy Beresa zu tun, versichern zwei von ihnen. Der habe den Ruf, seine Leute im Kampf nicht zu "verheizen".
Beresa, ehemaliger Abgeordneter, Unternehmer und beim Fußballclub "Dnjpro" engagiert, ist mehr Bär als Birke, was sein Nachname auf Russisch heißt. Von militärischem Konformismus hält er nicht viel, das sowjetische Militärdenken mit den von oben nach unten geprägten Befehlsstrukturen ist ihm ein Graus, das machte er schon letztes Jahr beim Treffen mit 20 Minuten deutlich.
"Nur schwer aus den Köpfen zu kriegen"
Das sei einer der Gründe, wieso er sich dem Kommandanten Beresa freiwillig angeschlossen habe, sagt der polnische Chefausbilder von "Dnjpro", der nur seinen Rufnamen, "Batman", sehen will.
Der 37-Jährige, der eine Erlaubnis seiner Regierung besitzt und seit letztem Jahr bei der Freiwilligenmiliz dabei ist, befürwortet Missionen mit einem Bottom-up-Ansatz, bei denen Befehlshabern vor Ort die Freiheit eingeräumt wird, Aufträge unabhängig von ihrem Rang und nach eigenem Ermessen auszuführen.
Die Realität sehe anders aus. "Einige ukrainische Offiziere, gerade in den höchsten Rängen, schränken Initiativen von unten zugunsten starrer Einsatzbefehle ein, die sie oft weit weg von der Front erteilen", ärgert sich der Ausbilder. "Es schwirren viele Schreibtischtäter und große Egos herum. Und die sowjetische Mentalität ist nur schwer aus den Köpfen zu kriegen."
In Ukraines Armee brodelt ein Kulturkampf
Auch andere Kämpfer an der Donbass-Front kritisierten das starre Lehrbuchdenken auf den Teppichetagen. Initiativen vor Ort würden unterbunden von Leuten in höheren Rängen, die abseits der Front rigide operative Befehle durchsetzten.
"In den ukrainischen Streitkräften brodelt ein Kulturkampf zwischen dem sowjetischen Militärdenken und der westlichen Militärkultur", beobachtet Militäranalyst Franz-Stefan Gady. Der Kampf schade der Ukraine letztlich im Krieg gegen Russland.
Gady warnt: "Ein Teil der ukrainischen Streitkräfte, insbesondere die Bodentruppen, läuft Gefahr, in ihre alten und unflexiblen Methoden zurückzufallen."
Franz-Stefan Gady ist Politikberater und Analyst am Institute for International Strategic Studies (IISS) in Wien. Er berät Regierungen und Streitkräfte in Europa und den Vereinigten Staaten.
Operationen immer noch nacheinander durchgeführt
Das Festhalten an der starren Kommandostruktur behindere die Kommunikation und die Zusammenarbeit mit anderen Einheiten. Daher würden die meisten ukrainischen Operationen immer noch nacheinander und nicht gemeinsam durchgeführt, so der Analyst.
"Das heißt, sie folgen einem starren Zeitplan, in dem isolierte Aktionen – hier ein Artilleriesperrfeuer, dort ein Infanterieangriff – nacheinander stattfinden und nicht gleichzeitig, wie es die moderne Taktik der kombinierten Streitkräfte empfiehlt."
NATO-Niveau? Verzerrtes Bild der ukrainischen Armee
Entgegen des westlichen – und von der Ukraine gerne befeuerten – Bildes habe sich die ukrainische Armee nicht von einer starren, hierarchischen Streitmacht sowjetischer Prägung zu einem anpassungsfähigen, effektiven Militär auf Nato-Niveau gewandelt, so Gady weiter.
Kommt hinzu, dass es unter den von der NATO ausgebildeten ukrainischen Soldaten in den ersten Kriegsmonaten hohe Opferzahlen gab. Auf sie folgten oft ukrainische Offiziere im Ruhestand, die noch von einem sowjetischen Militärdenken geprägt sind.
Sowjetisches Kulturerbe ablegen
"Der anhaltende Kulturkampf in den Reihen der Streitkräfte macht die Umwandlung der Ukraine in eine Kampftruppe des 21. Jahrhunderts zu einem schwierigen Unterfangen", notiert Gady. "Der Westen könnte helfen, indem er seine Ausbildungsbemühungen verstärkt, auch für die höchsten ukrainischen Beamten."
Damit dies jedoch etwas bewirke, müssten "die ukrainischen Streitkräfte zunächst ihr sowjetisches Kulturerbe ablegen, Befugnisse an untere Dienstgrade delegieren, und jungen Offizieren die Erlaubnis erteilen, Initiative zu ergreifen, ohne bestraft zu werden."
Gejagt, am Boden und mit Drohnen
Die Ausbilder von "Dnjpro" sprechen derweil über das Training und die laufende 24-Stunden-Übung, die bei eisiger Kälte schon seit zehn Stunden in den umliegenden Feldern und Wäldern läuft. "Batman" und sein ukrainischer Kollege – Rufzeichen "Maus", sein Gewehr nennt er "Mickey" – hatten um drei Uhr morgens aus Lautsprechern Raketeneinschläge erschallen lassen und Sprengstoff in die Luft gejagt.
"Die Männer mussten ihre Positionen im Wald suchen und sie den Tag über halten. Gleichzeitig jagen wir sie am Boden und mit Drohnen." Es sei ein hartes Training, das aber schnell zu Ergebnissen führe. "Die Ausbildung für die leichte Infanterie dauert nach NATO-Standards 124 Tage. Für uns muss gut die Hälfte ausreichen."
"Mit wem sollen wir die Männer ersetzen?"
Am Ende der Übung geben zwei Infanteristen auf, vier Tage zuvor waren es 24. "Batman" rechnet nicht damit, dass in zwei Monaten mehr als die Hälfte der ursprünglich 150 Männer bis zum Ende des Trainings durchhalten werden. Viele seien mit über 40 Jahren schlicht zu alt für den Krieg. "Doch mit wem sollen wir sie ersetzen?"
Problematische Vergangenheit der ukrainischen Freiwilligenverbände
Das Regiment Dnjpro ist ein im April 2014 gegründeter freiwilliger Kampfverband, der nach eigenen Angaben 1.000 Mann umfasst. Laut seiner Webseite ist er sowohl die einzige Polizeieinheit als auch der einzige Luftaufklärungszug in der Ukraine. Wie alle Milizeinheiten untersteht das Regiment Dnjpro der ukrainischen Nationalgarde und damit dem Innenministerium.
Die Milizeinheit wurde erstmals im April 2014 auf freiwilliger Basis als Patrouillenpolizeibataillon gegründet. Zu seinen ursprünglichen Aufgaben gehörte die Sicherung von Kontrollpunkten im Südosten der Ukraine.
Die Einheit wird heute vom Innenministerium finanziert, doch ihr Spitzname "Kolomoyskyis Bataillon" weist auf die Gründungszeiten des Verbandes 2014 hin: Der ukrainische Oligarch Ihor Kolomoyskyi und ehemalige Gouverneur des Oblast Dnipropetrowsk soll zehn Millionen Dollar für die Schaffung der Einheit ausgegeben haben. 2014 warf ein UNO-Bericht mehreren ukrainischen Freiwilligenverbänden unlauteres Vorgehen wie Entführungen und Folter gegen politische Gegner vor, darunter auch dem Bataillon Dnjpro.
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