Ukraine
Über 80.000: Die unzähligen Kriegsverbrechen der Russen
Über ein Jahr tobt der Krieg nun schon in der Ukraine. Doch die Russen spielen keineswegs mit fairen Mittel und kommen ungestraft davon.
Regelmäßig stehen Wohnhäuser, Schulen oder Krankenhäuser unter Beschuss. Orte an denen sich Unschuldige aufhalten und durch die Russen verletzt werden oder sogar ihr Leben verlieren. Damit nicht genug, eine von den UN unterstützte Untersuchung wirft Russland Folter, die Verschleppung von Kindern und sexuelle Gewalt in der Ukraine vor. Doch diese Kriegsverbrechen bleiben unbestraft und so macht die Armee von Präsident Putin immer weiter.
Enormes Leid
In einem Interview mit der "Neuen Zürcher Zeitung" äußert sich die ukrainische Anwältin Olexandra Matwitschuk, deren Organisation vor Kurzem mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, über die Geschehnisse des Krieges und warnt vor faulen Kompromissen mit dem Putin-Regime. "Sie verursachen mit Absicht enormes Leid mit dem Ziel, den Widerstand der Bevölkerung zu brechen. Es ist ein grausames Experiment, die Menschen in einen Zustand der Hilflosigkeit zu versetzen", so die Menschenrechtsanwältin.
Friedensnobelpreis
Die 39-Jährige leitet das Zentrum für Bürgerfreiheiten, eine 2007 von ihr mitbegründete Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Kiew. Im Dezember 2022 erhielt die Organisation in Anerkennung seiner Verdienste um die Dokumentierung von Kriegsverbrechen den Friedensnobelpreis. Die Juristin schrieb ihre Dankesrede dafür bei Kerzenlicht, da durch russische Luftangriffe auf die zivile Infrastruktur Millionen Menschen in der Ukraine keinen Strom oder fließend Wasser hatten.
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Jeder Tag ein Kampf
Es war die Solidarität des ganzen Landes, dass sie den Winter durchzustehen, erzählte die Ukrainerin im Interview mit "NZZ". "Es gab Firmen, die Generatoren aufstellten und die Leute einluden, ihre Telefone gratis aufzuladen oder Wasser zum Kaffee machen zu holen. Manche Nachbarn schrieben im Quartier-Chat, sie hätten einen funktionierenden Gasherd - wer wolle, dürfe bei ihnen kochen." Laut Matwitschuk gebe diese dramatische Zeit den Menschen die Chance, ihre besten Eigenschaften zu zeigen, obwohl jeder Tag ein Kampf ist. "Ich wünsche keinem Land, unsere Erfahrung durchmachen zu müssen, denn Krieg ist grauenvoll."
Großer Schmerz
Zur Dokumentation der russischen Kriegsverbrechen hat die Menschenrechtlerin Hunderte von Überlebenden befragt. Um diese Geschehnisse zu verarbeiten habe sie eine "emotionale Barrikade" aufgebaut und dennoch ist es für sie unmöglich, genug Abstand zu nehmen, um nicht darunter zu leiden. "Ich fühle bis heute Schmerz bei jeder Geschichte eines Opfers. Noch immer bin ich überrascht über das Ausmaß der Grausamkeit. Wahrscheinlich ist das gut so. Denn sonst hätte ich meine menschliche Empathie verloren", erklärte Olexandra Matwitschuk.
Die ukrainische Staatsanwaltschaft hat bisher mehr als 80 000 Verbrechen in diesem Krieg registriert. "Es gibt fast kein Kriegsverbrechen, das die Russen noch nicht begangen haben. Russische Truppen beschießen absichtlich Wohnhäuser, Schulen, Kirchen, Spitäler und Museen. Sie greifen Fluchtkorridore an und setzen verbotene Waffen in dicht besiedelten Gebieten ein. Russland organisiert die Deportation von Zivilisten und die erzwungene Adoption von ukrainischen Kindern, die zu 'Russen' umerzogen werden sollen. Die Besetzer foltern, verüben sexuelle Gewalt, entführen Menschen, begehen Morde und andere Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Kurz: Sie verletzen nicht nur die Genfer Konventionen. Sie verursachen mit Absicht enormes Leid mit dem Ziel, den Widerstand der Bevölkerung zu brechen", so die 39-Jährige weiter.
Verstärkung benötigt
Russland zur Rechenschaft für diese Verbrechen zu ziehen scheint jedoch beinahe unmöglich. Obwohl der Internationale Strafgerichtshof Anklage gegen Russlands Präsident Putin erhoben hat und sich für die Zuständigkeit für Kriegsverbrechen in der Ukraine anerkannte, reicht das laut Matwitschuk nicht. "Dieser Gerichtshof begrenzt seine Ermittlungen auf wenige ausgewählte Fälle. Die Frage stellt sich, wie die vielen Opfer, deren Fall nicht aufgegriffen wird, zu ihrem Recht kommen – gewöhnliche Bauern, Lehrer und andere Leute, deren Schicksale nicht im Scheinwerferlicht der internationalen Medien stehen. Für sie brauchen wir ein neues, hybrides Modell, eine Verstärkung der nationalen Justiz mit ausländischer Hilfe."