Trotz Selbstverletzung

Suizidgefährdete Lea (14) von Psychiatrie abgewiesen

Die Situation in den heimischen Kinder- und Jugendpsychiatrien ist besorgniserregend. Zwei Mütter erzählen in "Heute" ihre Geschichte.

Christine Ziechert
Suizidgefährdete Lea (14) von Psychiatrie abgewiesen
Sissi W. (l.) und Silvia M. erzählen von den Psychiatrie-Erfahrungen ihrer Kinder.
Helmut Graf, zVg

Die Zahlen sind alarmierend, Experten besorgt: Im Jahr 2022 stieg die Suizidrate bei Kindern und Jugendlichen um 57 Prozent (im Vergleich zu 2021), 36 Kinder und Jugendliche zwischen zehn und 20 Jahren nahmen sich das Leben. 

Auch Lea (14, Name geändert) hatte Suizid-Gedanken, fügte sich ab dem Alter von 11 Jahren meist mit Rasierklingen selbst Verletzungen zu: "Sie wollte drei Mal in der Psychiatrie aufgenommen werden, wurde aber zwei Mal abgewiesen – trotz Selbstverletzungen und Suizidgedanken", erinnert sich ihre Mutter, Silvia M. (49, Name geändert) im Gespräch mit "Heute". Erst als das Mädchen in der Nacht bei einer Brücke aufgegriffen wurde und drohte, sich hinunterzustürzen, kam sie in die Kinderpsychiatrie.

"Lea wurde in der offenen Abteilung untergebracht. Dort ist sie aber leider an Rasierklingen gekommen. Als sie nicht in die Schule durfte, ist die Situation eskaliert, und sie kam in die geschlossene Abteilung. Dort blieb sie eine Woche, dann wurde sie wieder entlassen und zu uns direkt nach Hause geschickt", berichtet Silvia M.

Mit ein Auslöser war sicher, dass sie in der Schule gemobbt wurde
Silvia M.
Leas Mutter

Die hochbegabte Schülerin hat heute noch Narben auf ihren Armen, Beinen und am Bauch: "Mit ein Auslöser war sicher, dass sie in der Schule gemobbt wurde", erzählt Silvia M. Mitschüler bewarfen das Mädchen mit Radiergummis, niemand wollte ihr glauben, dass sie schon in der 1. Volksschul-Klasse "Harry Potter" las: "Es wurde behauptet, dass sie lügt, sich nur wichtig macht", meint Silvia M.

Durch die Pandemie kam für die 14-Jährige dann der absolute Tiefpunkt, die Depression verstärkte sich: "In Zeiten, wo der Freundeskreis immer wichtiger wird, wurde Lea – wie auch andere Gleichaltrige – gezwungen, alleine im Lockdown zu Hause zu sitzen", berichtet die 49-Jährige.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass uns niemand geholfen hat. Als Mutter bzw. Eltern wirst du völlig allein gelassen – ein totales Systemversagen
Silvia M.

An die Zeit, als ihre Tochter in der Psychiatrie war, erinnert sie sich nicht gerne: "Ich habe die Erfahrung gemacht, dass uns niemand geholfen hat. Als Mutter bzw. Eltern wirst du völlig allein gelassen – ein totales Systemversagen. Das Einzige, was mir damals geholfen hat, war das Gespräch mit anderen Betroffenen", erklärt die Wienerin.

Gespräche, die Silvia M. seit heuer in der neuen Selbsthilfegruppe "Sorgen teilen" führen kann. Die Selbsthilfegruppe ist für Eltern gedacht, deren Kinder in der Psychiatrie sind, waren oder kurz davor stehen: "Ich möchte Eltern die Unsicherheit nehmen und offen über die Möglichkeit eines stationären Aufenthaltes in der Psychiatrie sprechen", meint Gründerin Sissi W. (37), die Betroffene regelmäßig zu Treffen lädt.

Lukas (12) verweigerte die Schule

Die Wienerin weiß, wovon sie spricht: Ihr Sohn Lukas (12, Name geändert) wurde vor zwei Jahren ebenfalls in der Kinder-Psychiatrie untergebracht: "Es hat mit Corona angefangen, dann wechselte er ins Gymnasium. Es wurde immer schwieriger. Er arbeitete im Unterricht immer weniger mit, saß stundenlang mit Jacke und Haube in der Klasse, ohne seine Schulsachen auch nur auszupacken. Es fiel ihm mit der Zeit immer schwerer, die Schule überhaupt zu besuchen. Die letzten sechs Wochen bis zu den Sommerferien ging er dann gar nicht mehr", erzählt Sissi W.

Auch zu Hause gab es immer wieder Konflikte. Lukas wurde schnell wütend und ausfallend, begann, seine Eltern zu belügen und zu bestehlen. "Auf der anderer Seite war er auch oft verzweifelt und hat viel geweint. So haben wir ihn früher nie erlebt", so seine Mutter. Die Familie holte sich Hilfe, den Sommer 2021 verbrachte Lukas in der Psychiatrie. Später wurde er erneut für drei Monate aufgenommen. Seine Diagnose: Depression.

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    Karl Schöndorfer / picturedesk.com
    Er hatte so eine Wut in sich. Manchmal hat er den Kopf gegen die Wand geschlagen oder die Faust gegen den Oberschenkel
    Sissi W.
    Gründer der Selbsthilfegruppe "Sorgen teilen"

    "Er hatte so eine Wut in sich. Manchmal hat er den Kopf gegen die Wand geschlagen oder die Faust gegen den Oberschenkel. Er war sehr im Widerstand und verweigerte vehement, was ihm nicht passte. In der Klinik meinten sie, sie hätten noch nie so ein Kind erlebt. Die erste Woche war extrem heftig, wir mussten ihn heulend im Bett zurücklassen – das zerreißt einer Mutter das Herz. Als Eltern stellt man sich an diesem Punkt die Frage, ob man mit der Aufnahme in die Psychiatrie die richtige Entscheidung getroffen hat", meint die 37-Jährige. Rückblickend betrachtet, hätte der Klinik-Aufenthalt aber sicher einen Teil zu Lukas' Genesung beigetragen, erklärt Sissi W.

    Nach seiner Entlassung kümmerten sich Lukas' Eltern um weitere Therapien und holten sich auch selbst Hilfe. Dadurch – und mit medikamentöser Unterstützung – gelang es dem Burschen, wieder in den Schulalltag und das Familienleben zurückzukehren. Heute geht es Lukas wieder gut. Der Zwölfjährige besucht eine Sportmittelschule, anfängliche Lernblockaden sind weg. Auch Lea geht es besser: "Sie hat die Therapeutin gewechselt, ist aber immer noch sehr labil und fragil", meint Silvia M. Die (fehlende) Selbstwahrnehmung ist nach wie vor Thema: "Sie beißt in eine Chili oder schmiert sich Tigerbalsam auf die Lippen, damit sie sich selbst spüren kann – ohne Narben."

    Hier finden Sie Hilfe

    Kinder- und Jugendliche
    Die Homepage bittelebe richtet sich gezielt an Kinder und Jugendliche.
    Rat auf Draht: Tel.: 147. Beratung für Kinder und Jugendliche. Anonym und rund um die Uhr. www.rataufdraht.at.
    Kindernotruf: Tel.: 0800 567 567. Der Kindernotruf ist eine 24-Stunden Telefonberatung in akuten Krisen sowie Konfliktsituationen.

    Österreichweit
    Telefonseelsorge: Tel.: 142 (Notruf), täglich 0–24 Uhr, Telefon-, E-Mail- und Chat-Beratung für Menschen in schwierigen Lebenssituationen oder Krisenzeiten. Online unter www.telefonseelsorge.at.
    Polizei: Tel.: 133, Gefahrenabwehr und Prävention bei Selbst- und Fremdgefährdung, online unter www.polizei.gv.at.
    Rettung: Tel.: 144

    Männernotruf: Tel.: 0800 246 247, Der Männernotruf bietet Männern in Krisen- und Gewaltsituationen österreichweit rund um die Uhr eine erste Ansprechstelle. Online unter www.maennernotruf.at.
    Männerinfo: Tel.: 0800 400 777. Telefonische Krisenberatung rund um die Uhr aus ganz Österreich; bei Bedarf auch gedolmetschte Beratung; anonym vertraulich, kostenlos. Online unter www.maennerinfo.at.

    Frauenhelpline: Tel.: 0800 222 555. Die Frauenhelpline gegen Gewalt bietet rund um die Uhr Informationen, Hilfestellungen, Entlastung und Stärkung – auch in Akutsituationen. Online unter www.frauenhelpline.at.
    Ö3 Rotes Kreuz Kummernummer: Tel.: 116 123. täglich von 16 bis 24 Uhr, anonym und kostenlos. Weitere Informationen finden Sie auch online unter www.roteskreuz.at.
    HPE: Beratungsstelle für Angehörige und Freunde psychisch Erkrankter, hpe.at
    Weitere Hilfsangebote unter gesundheit.gv.at/leben/suizidpraevention/betroffene/krisentelefonnummern.html

    cz
    Akt.