Westliche Reaktion erwartet
"Stunde der Wahrheit" – in Charkiw geht es um alles
Russlands Offensive in Charkiw läuft, derweil soll ein neuer Verteidigungsminister die Umstellung auf Kriegswirtschaft vorantreiben
Die russische Armee rückt bei Charkiw vor. Laut Osteuropa-Experte Alex Dubowy muss der Westen darauf eine Reaktion zeigen. Gegenüber "20 Minuten" ordnet der Fachmann die jüngsten Entwicklungen ein.
Wie ist die Lage an der Front bei Charkiw derzeit?
Gemäß dem Thinktank "Institute for the study of war" (ISW) hat die russische Offensive um Charkiw an Tempo verloren. Seit dem 10. Mai hatten die Russen anfangs weniger gut verteidigte Gebiete einnehmen können. Mittlerweile konnten die ukrainischen Truppen die Lage aber stabilisieren.
Welches Ziel verfolgt Russland mit dem Angriff auf Charkiw?
Russische Truppen versuchen laut dem ISW, im Nordosten der Stadt nahe der Grenze taktische Geländegewinne zu erzielen und Brückenköpfe für weitere Vorstöße zu errichten. Dabei werden sie aber von Gegenangriffen sowie Drohnen- und Artillerieschlägen der Ukrainer derzeit an größeren Fortschritten gehindert.
Wird Charkiw bald fallen?
Darauf deutet laut ISW derzeit nichts hin. Auch Osteuropa-Experte Alexander Dubowy sagt: "Die rund 50’000 Soldaten, die derzeit für die Offensive bei Charkiw zur Verfügung stehen, reichen für eine schnelle Einnahme der ehemals zweitgrößten Stadt der Ukraine kaum aus."
Welche Bedeutung hätte eine Eroberung Charkiws?
Laut Dubowy vor allem eine symbolische: "Schon 2014 gab es Versuche des russischen Geheimdienstes, Stadt und Region Charkiw unter russische Kontrolle zu bringen. Diese Versuche scheiterten aber am Widerstand der lokalen Politiker und der Bevölkerung. Für Russland wäre die Eroberung deshalb ein großer symbolischer Sieg."
Was bedeutet die Offensive für den weiteren Kriegsverlauf?
Für die Ukrainer kommt derzeit ein neues Problem hinzu: Die russische Artillerie kann die ukrainischen Verteidigungsstellungen relativ problemlos von russischem Territorium aus beschießen, weil die Grenze so nahe ist. Eine Bedingung für die US-Waffenlieferungen war aber seit jeher, dass die Ukraine damit kein russisches Territorium angreift. "Die ukrainischen Verteidigungsstellungen werden also beschossen, können aber nur begrenzt zurückschießen. Das schränkt die Möglichkeiten der Ukraine derzeit stark ein", sagt Dubowy.
Putin hat kürzlich Verteidigungsminister Sergei Schoigu durch den Ökonomen Andrei Beloussow ersetzt. Macht sich das bereits bemerkbar?
Laut Dubowy ist die derzeitige Offensive sicher keine direkte Auswirkung davon. "Diese Offensive wurde schon länger geplant und erwartet." Trotzdem zeige die Ernennung, dass Putin die Dringlichkeit, zu handeln, bewusst sei: "Beloussow hat mehr Geld erhalten und seine Aufgabe ist es, diese nach wie vor begrenzten Mittel so effizient wie möglich einzusetzen. Die Umstellung auf Kriegswirtschaft muss in den Augen Putins jetzt schnell vorangetrieben werden", sagt der Analyst.
Welche Schlüsse sollte der Westen aus der Ernennung Beloussows ziehen?
Eine wesentliche Schlussfolgerung ist für Dubowy, dass Putin sehr wohl rational handeln kann: "Davon zeugt seine Personalpolitik. Er setzt vermehrt Fachleute ein, die kaum ideologisch verblendet sind und pragmatisch ihre Arbeit machen. Das macht die Situation für den Westen umso gefährlicher."
Stellt sich Russland also nach wie vor auf einen sehr langen Krieg ein?
Darauf deutet laut Dubowy alles hin: "Derzeit hat auch Russland nicht unendlich Mittel. Je nach Quelle reichen diese noch für ein bis zwei Jahre Krieg, wie er derzeit geführt wird. Wenn es Russland jedoch gelingt, langfristig auf Kriegswirtschaft umzustellen, und das ist das Ziel, das Putin unter anderem mit der Ernennung Beloussows verfolgt, muss irgendwann auch der Westen merken: Die Stunde der Wahrheit rückt näher."
Welche Reaktion ist vom Westen zu erwarten?
Für Dubowy ist es an der Zeit, dass insbesondere Europa "adäquat auf die Umstellung Russlands reagiert". Will heißen: "Europa muss sich wehrfähig und vor allem wehrwillig zeigen. Jede Geste der Beschwichtigung wird von Putin als Schwäche ausgelegt. Es geht hier nicht darum, Kriegsangst zu schüren oder gar einen Krieg mit Russland zu provozieren. Doch Europa muss der Wirklichkeit, wie sie ist, endlich ins Auge sehen: Putin wird sich nicht von seinem Krieg abbringen lassen. Sollte die Ukraine fallen und der Westen ist dann nicht in der Lage, Wehrfähigkeit zu demonstrieren, ist ein Angriff auf das Baltikum nicht auszuschließen."