Armee kämpft ums Überleben
Russen erhöhen Druck – hält die Ukraine durch?
Die Ukraine muss sich gegen eine zweite russische Winteroffensive verteidigen. Die Frage ist: Halten ihre Linien?
Aktuell drückt die russische Armee aus drei Richtungen: Im Norden will sie im Raum Kupjansk bis an den Fluss Oskil vorstoßen. Westlich von Bachmut drängt sie Richtung Tschassiw Jar. Und von Awdijiwka aus versucht sie westwärts vorzudringen.
An diesen drei Stellen erhofft sich Moskau einen operativen Durchbruch, da die ukrainischen Befestigungen dort nicht stark ausgebaut sein dürften. Dabei nimmt Russland in seiner zweiten Winteroffensive so hohe Verluste in Kauf wie nie zuvor. Denn die Zeit drängt.
Nicht nur sollten auf die russischen Präsidentschaftswahlen hin möglichst noch Erfolge eingefahren werden. Vor allem verkleinert die nahende Schlammzeit das Zeitfenster der Kämpfe, zumal schweres Militärgerät dann nicht mehr bewegt werden kann.
Ist ein russischer Durchbruch realistisch?
Ja. Die Russen greifen an mehreren Stellen gleichzeitig an, um zumindest an einer Stelle durchzubrechen – und die Wirkung eines Dammbruchs zu erzielen. Es geht um den sogenannten Tipping Point. Experten befürchten, dass dieser diesen Sommer erreicht sein wird.
Einschätzung: "Beide Seiten versuchen derzeit, massiv Ressourcen einzusetzen. Wer zu einem gewissen Punkt keine Ressourcen mehr hat, wird rasch nachgeben. Und da kann eine Art Domino-Effekt entstehen – etwas, das wir aus der Kriegsgeschichte in vielen Beispielen aus den letzten Jahrhunderten kennen", sagt Reisner. "Im schlimmsten Fall lässt sich ein Durchbruch nicht mehr aufhalten und die Russen stehen in der Mitte des Landes am Dnipro."
Halten die Verteidigungslinien?
Unklar. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski berichtete im französischen TV von "mehr als 1.000 Kilometern" Befestigungsanlagen, die seine Armee gerade errichte. Doch auch er weiß, dass die Ukraine im Gegensatz zu Russland damit erst spät begann.
Der Grund: Zu Beginn des Krieges setzte man auf eine bewegliche Einsatzführung, welche die Russen in die Enge treiben sollte. So investierte man viel Zeit in den Ausbau der ersten Linie, aber weniger für den Ausbau der zweiten und dritten Linie. Ob sich das rächen wird, dürfte sich bald in Awdijiwka zeigen.
Was ist mit Verhandlungen?
"Jetzt zu verhandeln, nur weil ihnen die Munition ausgeht, wäre für uns irgendwie absurd", sagte Putin unlängst. Daran änderte auch Papst Franziskus höchstpersönlich nichts, als er Kiew faktisch zur Kapitulation aufrief. Kiew reagierte empört. Man plane nicht, vor Russland in die Knie zu gehen. Wer Frieden wolle, müsse dies dem Aggressor sagen. Ohnehin gäbe es derzeit nichts mit Moskau zu verhandeln.
Einschätzung: "Die Ukrainer sagen aus meiner Sicht völlig zu Recht: Es ist völlig unrealistisch zu verhandeln, wenn das Gegenüber nicht verhandeln will beziehungsweise die ukrainische Staatlichkeit grundsätzlich infrage stellt", sagt Reisner.
Was ist mit "Taurus"?
Viel Wind um wenig. Der deutsche Bundestag hat die Forderung der Union nach einer Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine am Donnerstag erneut klar abgelehnt – zum dritten Mal in diesem Jahr.
Um massiven Druck auf die Russen ausüben zu können, müssten die Ukrainer mit Hunderten von Marschflugkörpern über Wochen und täglich Dutzende Angriffe fliegen. Nur und erst dann hätten sie wirklich einen Effekt.
Einschätzung: Experten sehen das Taurus-Waffensystem nicht als "Game Changer" für die Ukraine – ebenso wenig wie etwa die Kampfpanzer "Leopard" und "Abrams". Ausschlaggebend wäre vielmehr ein "Kampf der verbundenen Waffen", also das Zusammenspiel einzelner Waffengattungen.
Was bringen westliche Kampfjets?
Das bleibt abzuwarten. Amerikanische F-16 sollen im Sommer bereit sein und in diesen Tagen werden offenbar zwölf ukrainische Piloten an F-14-Kampfjets aus den Niederlanden und Dänemark ausgebildet. Das ist nicht viel. Die grösste Herausforderung ist allerdings die Logistik.
Denn die Ukrainer müssen die Kampfjets permanent verlegen, von einem Flugplatz auf eine Autobahn, von der Autobahn zum nächsten Flugplatz.
Einschätzung: "Sie spielen Katz und Maus mit den Russen", sagt Oberst Reisner. "Die Russen versuchen, sie mit weitreichenden Marschflugkörpern, iranischen Drohnen oder ballistischen Raketen zu treffen. Aber bislang sind die Ukrainer immer rechtzeitig entwischt."
Was bewirken russische Partisanen?
Vor den Präsidentschaftswahlen haben Partisanengruppen verschiedene Angriffe auf die russischen Regionen Belgorod und Kursk lanciert: die Legion Swoboda Rossii ("Freiheit Russlands"), das Russische Freiwilligenkorps, angeführt von einem russischen Neonazi, sowie das Sibirische Bataillon.
Die drei Gruppen operieren von ukrainischem Territorium aus und wollen bei den russischen Präsidentschaftswahlen an diesem Wochenende Chaos stiften. Es kam zu mehreren Drohnenangriffen auf russische Ölraffinerien. Die wirtschaftlichen Schäden sind noch nicht absehbar.
Laut Berechnungen der Nachrichtenagentur Bloomberg sollen die angegriffenen Raffinerien aber mindestens zwölf Prozent der russischen Ölverarbeitung ausmachen.
Einschätzung: Militärexperte Reisner geht davon aus, dass die jüngsten Drohnenangriffe erst ein Anfang waren: "Ich denke, dass wir in den nächsten Tagen noch die eine oder andere spektakuläre Überraschung sehen werden." Alles in allem mögen sie für Schlagzeilen sorgen, doch auf das große Kriegsgeschehen haben die Aktionen der bewaffneten Partisanengruppen so gut wie keinen Einfluss. Aber bezüglich Informationsaktivitäten, Moral und Einfluss auf die russische Bevölkerung sind die Aktivitäten der russischen Partisanen nicht zu unterschätzen.
Worauf ist in den nächsten Wochen zu achten?
Die zweite russische Winteroffensive hat faktisch ihren Höhepunkt erreicht und die große Frage der kommenden Wochen lautet: Hält die ukrainische Armee durch, bis die Schlammzeit einsetzt? "Das würde ihr Luft verschaffen und dann wird man sehen, wie die Ressourcen neu ausgerichtet werden", sagt Reisner.
Einschätzung: Der österreichische Militärexperte schließt nicht aus, dass die defensive Ukraine punktuell gezwungen sein wird, Geländeabschnitte aufzugeben, um Mann und Munition zu schonen.
"Man wird genau darauf achten müssen, ob der Westen in der Lage ist, den Ressourcenbedarf der Ukraine weiter zu stützen", so Reisner. "Wenn das der Fall ist, hat die Ukraine eine Chance. Ist das nicht der Fall, dann wird die Ukraine, wie wir sie kennen, aufhören zu existieren."