Ski-Ikone im "Heute"-Talk
ÖSV-Star Reichelt: "Jungen sind in einer Komfortzone"
Vor zehn Jahren gewann Hannes Reichelt auf der Streif – mit Bandscheibenvorfall. Im "Heute"-Talk blickt er zurück und spricht über die ÖSV-Krise.
"Heute": Herr Reichelt, Ihr Husarenritt auf der Streif jährt sich zum zehnten Mal. Was blieb außer der 'Goldenen Gams'?
Hannes Reichelt: "Es ist unglaublich, dass das schon wieder so lange her ist. Es war schon ein Sieg, der mein Leben verändert hat. Für mich ging einfach ein Kindheitstraum in Erfüllung. Man ist dann in einem sehr erlesenen Kreis. Wenn ich nach Kitzbühel komme, sehen mich die Leute als ehemaligen Hahnenkammsieger, das ehrt einen. Ich werde oft drauf angesprochen. Denn es wurde auch der Streif-Film zu dieser Zeit gedreht und der läuft seitdem jedes Jahr vor dem Renn-Wochenende."
Ist der Sieg auch deshalb speziell, weil Sie zwei Tage später am Rücken operiert werden mussten?
"Jeder, der schon mal Kreuzweh hatte oder mit den Bandscheiben Probleme hat, wird fragen: Wie kann man in diesem Zustand auf der Streif gewinnen? Aber ich habe mich einfach komplett auf das Skifahren fokussiert. Da sieht man, was der Geist bewirken kann, wenn man sich auf eine Sache konzentriert. Da kann man viel ausblenden. Aber sicher, die Dramaturgie war ein Wahnsinn."
Würden Sie es heute gleich machen? Würden Sie wieder starten?
"Ja. Denn ich wusste damals nicht, dass es um meinen Rücken wirklich so schlimm bestellt ist, hatte noch keine Diagnose. Ich habe einfach abgewägt, ob die Schmerzen einen Start zulassen. Und im gebückten Zustand ging es ganz gut. Ich würde es also wieder so machen."
Was braucht es, um in Kitzbühel der Schnellste zu sein?
"Die Kunst ist, nicht zu überpowern. Das ganze Drumherum ist so aufgeblasen, da tendiert man dazu, alles noch besser zu machen. Man muss einfach seinen Plan von oben bis unten durchziehen, nicht alles zerreißen wollen."
Die Streif ist vor allem bei Debütanten gefürchtet. Können Sie sich ans erste Mal erinnern?
"Ich weiß nicht mehr, welches Jahr es war, aber ich bin mit Eberharter und Knauß mit der Gondel raufgefahren. Beide haben gesagt, sie haben jedes Jahr aufs Neue Angst. Das war nicht so förderlich für einen Neuling wie mich. Es schockiert einen schon, wenn die Arrivierten auch so denken – Eberharter war amtierender Olympiasieger. Sie haben es nicht gesagt, um mich einzuschüchtern, sie haben wirklich so gedacht."
Kommen wir zur Gegenwart. Die ÖSV-Abfahrer reisten ohne Stockerlplatz nach Kitzbühel. Was läuft schief?
"Wir haben derzeit nicht viele Siegläufer, nur Kriechmayr, eventuell Hemetsberger. Die anderen können maximal überraschen. Der 'Mothl' (Matthias Mayer, Anm.) geht uns schon sehr ab. Der hat in den letzten Jahren einfach viel überdeckt. Ich weiß nicht, ob der ÖSV etwas verabsäumt hat, das kann ich nicht sagen. Aber ich habe das Gefühl, dass die jungen Läufer, die nachkommen, in einer Komfortszene sind. Sie müssen sich intern nicht konkurrieren, weil ohnehin genügend Startplätze da sind. Zum Teil wird gar keine Quali gefahren, weil gewisse Trainer gewisse Liebkinder haben. Das war zu meiner Zeit schon so. Aber nur durch internen Kampf wird man besser. Momentan haben wir die Dichte nicht."
In Wengen waren – auch krankheitsbedingt – zuletzt nur vier ÖSV-Läufer am Start. Wo bleiben die Talente, wo ist die zweite Garnitur?
"Vor Wengen war eine Europacup-Abfahrt in Saalbach. Es war strategisch gut, dass unsere Jungen dort gefahren sind. Aber ich habe schon am Anfang der letzten Saison kritisiert, dass zum Beispiel bei den US-Rennen das Kontingent nicht ausgeschöpft wurde. Es wurden zum Teil Leute aus dem Kader geschmissen, wo ich mich frage: Warum, wenn wir eh keine Läufer haben. Die Situation ist nicht einfach."
Michael Walchhofer ortete zuletzt physische Defizite. Sie auch?
"Das kann ich nicht beurteilen. Ich glaube nicht, dass unsere so schlecht beisammen sind. Aber wenn man schaut, wer in der Abfahrt vorne mitfährt, sind das Athleten, die auch im Riesentorlauf gut sind. Das hast du in unserem Team nicht. Es ist keiner dabei, der im Weltcup auch konstant Riesentorlauf fährt. Vielleicht ist das der Fehler im System. Als ich in die Mannschaft kam, musste man drei Disziplinen beherrschen – Abfahrt, Super-G und Riesentorlauf. Sonst hättest du keine Chance gehabt. Ich sage nicht, dass es das ultimative Rezept ist, aber vielleicht ist es ein Lösungsansatz."
Hans Knauß fordert eine permanente Abfahrts-Trainingspiste in Österreich, ähnlich wie sie die USA in Copper Mountain haben. Ist das umsetzbar?
"Ich denke schon. Es ist immer die Frage, welche Unterstützung bekommt man von den Skigebieten. Für sowas muss man Geld in die Hand nehmen. Aber es würde gehen."
Trotz allem: Können Kriechmayr und Co. in Kitzbühel das Ruder herumreißen?
"Es ist sicher möglich. Der Vinc ist nicht so weit weg. Sie haben heuer keinen großen Druck, weil niemand viel erwartet. Sie können nur gewinnen."
Es gab in diesem Skiwinter schon viele Verletzte. Die drei prominentesten Namen sind Marco Schwarz, Aleksander Aamodt Kilde und Alexis Pinturault – drei Top-Athleten. Ist das Programm zu hart, wie einige vermuten?
"Das Programm ist heftig, da stimme ich zu. Ich denke aber, wenn die Athleten fit sind, ist es machbar. Das hat Odermatt bislang bewiesen. Das Verletzungsrisiko steigt natürlich, wenn nicht alle Rädchen ineinandergreifen. Kilde war nach Adelboden krank, ist dann in Wengen gestürzt. Ich selbst bin auch Rennen gefahren, obwohl ich nicht fit war. Es geht meistens gut, aber manchmal eben nicht. Pinturault wurde kurz vor seinem Kreuzbandriss Papa. Wer schon mal bei einer Geburt dabei war, der weiß, was das mit einem macht. Da war er mit dem Kopf womöglich nicht ganz bei der Sache."
Marco Odermatt gehen langsam die Gegner aus. Was macht er besser als der Rest der Welt?
"Er fährt technisch in einer anderen Liga, hat auch sein Material entsprechend abgestimmt. Er ist technisch den anderen weit voraus."
Heißt das, er wird nun jahrelang dominieren?
"Das muss nicht sein, denn die anderen schlafen nicht. Sollte er sich zurücklehnen und denken, dass es ohnehin so weitergeht, wird er sicher eingeholt. Es wird für ihn jetzt jedes Jahr schwieriger, weil die Erwartungshaltung an ihn steigt. Es wird ein brutaler Druck. Wenn er es dennoch durchzieht, Respekt. Ich mag ihn, er ist ein cooler Typ."
Herr Reichelt, wer gewinnt heuer in Kitzbühel – wenn wir Odermatt ausklammern?
"Dann würde ich auf Paris tippen. Aber auch Sarrazin hat das Zeug, ganz vorne zu landen. Und ich schreibe auch Kriechmayr sicher nicht ab. Der kann von einem auf den nächsten Tag wieder schnell sein."