Türkei vor Umbruch
Ist die Ära Erdogan nach Wahlschlappe jetzt vorbei?
Bei den Kommunalwahlen in der Türkei triumphiert die Opposition. Bedeutet das jetzt das Ende der Ära Erdogan?
Bei den Kommunalwahlen in der Türkei fährt Erdogan mit seiner islamisch-konservativen AKP eine Schlappe ein. In der 16-Millionen-Metropole Istanbul gewann der bisherige Bürgermeister Ekrem Imamoglu von der oppositionellen CHP mit deutlichem Vorsprung vor dem AKP-Kandidaten und auch in anderen wichtigen Städten siegten die Kandidaten der Opposition. Zum ersten Mal seit ihrer Gründung ist Erdogans AKP nicht mehr die wählerstärkste Partei des Landes. Der Nahost-Experte Erich Gysling beantwortet die wichtigsten Fragen.
Wie schätzen Sie das Ergebnis dieser Wahl ein?
Für Erdogan und seine islamisch-konservative AKP ist das Ergebnis dieser Wahl ein echter Rückschlag. Besonders schmerzhaft für Erdogan ist die deutliche Niederlage in seiner Heimatstadt Istanbul. Diese wollte er unbedingt für die AKP zurückerobern, ist damit aber kläglich gescheitert. Noch deutlicher war die Niederlage der AKP in der Hauptstadt Ankara, wo der oppositionelle Bürgermeister den AKP-Kandidaten regelrecht deklassierte. Diese deutlichen Resultate erstaunen, da die Medien alle klar die AKP-Kandidaten bevorzugten, und zeigen, dass die Stimmung in der Bevölkerung kippte.
Warum hat sich der Wind seit den Präsidentschaftswahlen 2023 gedreht?
Der Hauptgrund ist ganz klar die wirtschaftliche Lage, die sich seit der Wiederwahl von Erdogan im Mai 2023 nicht verbesserte, sondern sogar weiter verschlechterte. Die Inflation von aktuell 67 Prozent ist für die Bevölkerung dermaßen spürbar, dass die Unzufriedenheit mit der Regierung nicht erstaunt. In gewissen Teilen der Türkei ist das Unbehagen auch groß, weil es mit dem Aufbau in der Erdbebenregion im Osten des Landes überhaupt nicht vorwärtsgeht. Ein weiterer Grund dürfte auch sein, dass die Opposition sehr geschickt die Vetternwirtschaft der AKP anprangerte und damit offensichtlich den Nerv der Bevölkerung traf.
Neigt sich die Ära Erdogan dem Ende zu?
Von einem Ende der Ära Erdogan zu sprechen ist noch viel zu früh. Die nächsten entscheidenden Präsidentschaftswahlen sind erst in vier Jahren. Bis dahin kann sich noch sehr viel ändern.
Der wiedergewählte Istanbuler Bürgermeister Imamoglu gilt als Hoffnungsträger der Opposition. Wie schätzen Sie ihn ein?
Imamoglu hat sicher das Potential, sich als Gegenspieler zu Erdogan aufzubauen. Im Wahlkampf griff er Erdogan direkt an und positionierte sich als Kandidat für alle, die von Erdogan die Nase voll haben. Zudem steht er zwar klar für die säkulare Tradition seiner Partei CHP ein, scheut aber auch den Kontakt mit religiösen Menschen nicht. Ein leichtes Spiel wird Imamoglu aber nicht haben, Erdogans Machtbasis ist in der Türkei weiterhin immens.
Was bedeutet diese Wahl für die Beziehungen der Türkei zur EU?
Da ändert sich nicht viel. Die Gespräche über einen EU-Beitritt der Türkei sind schon lange auf Eis gelegt. Dass diese so schnell wieder aufgenommen werden, sehe ich nicht. Auch auf das Flüchtlingsabkommen mit der EU hat diese Wahl wohl keinen Einfluss. Da dieses für die Türkei finanziell interessant ist, hätte auch Imamoglu ein Interesse daran. Im Moment ist allerdings umstritten, inwiefern der Flüchtlingsdeal überhaupt noch funktioniert. Denn der Türkei wird vorgeworfen, sich gar nicht mehr daranzuhalten.
Der Flüchtlingsdeal mit der EU
Für die Flüchtlingsfrage in Europa spielt die Türkei eine zentrale Rolle. Das Land hat mit rund 3,7 Millionen Menschen insgesamt weltweit am meisten Flüchtlinge aufgenommen. Einige von ihnen versuchen, über die sogenannte "östliche Mittelmeer-Route" in die EU einzureisen.
Von 380.000 irregulären Migranten 2023 kamen laut Frontex 60.000 über diese Route in die EU. Dieses Jahr registrierte Griechenland alleine in den ersten beiden Monaten knapp 8.000 Ankünfte. Mit dem 2016 geschlossenen Flüchtlingsdeal mit der EU verpflichtete sich die Türkei, den Zustrom von Migranten nach Europa zu verringern.
Seit 2020, als Erdogan Tausende Geflüchtete in Bussen von Istanbul bis an die griechische Grenze bringen ließ, ist umstritten, inwiefern sich die Türkei überhaupt noch an den Deal hält. Erdogan wird vorgeworfen, die Flüchtlinge als Druckmittel gegen die EU einzusetzen. Die Türkei wiederum wirft der EU vor, sich nicht an die Vereinbarung zu halten.
Was würde sich mit Imamoglu als Staatspräsidenten ändern?
Eines der größten Themen wäre sicher die Rolle der Religion in der Türkei. Imamoglu beruft sich auf das Prinzip des Staatsgründers Kemal Atatürk, das eine strikte Trennung von Staat und Religion vorschreibt. Dieses Prinzip wurde unter Erdogan immer weiter aufgelöst. Ob es Imamoglu schaffen würde, diese Entwicklung zurückzudrehen, ist ungewiss. Inwiefern sich die Außenpolitik unter Imamoglu von deren Erdogans unterscheiden würde, kann man jetzt noch nicht sagen.