Der "Xist-Effekt"
Heiße Spur – warum Frauen öfter autoimmunerkranken
Neue Erkenntnis: Ein Molekül, das von einem X-Chromosom in jeder weiblichen Zelle gebildet wird, kann Antikörper gegen das eigene Gewebe bilden.
Das Immunsystem soll uns vor fremden Eindringlingen wie Bakterien und Parasiten sowie Viren und krebsartigen Mutationen schützen. Ohne es wären wir nicht lebensfähig. So dankbar wir für dieses Schutzsystem auch sind, bei manchen kann es ein wenig übereifrig werden, sodass es das eigene Körpergewebe angreift. Mit Erkrankungen wie Typ-1-Diabetes, rheumatoider Arthritis, Lupus und Multipler Sklerose ist die Autoimmunerkrankung die dritthäufigste Krankheitskategorie und wird nur noch von Krebs und Herzerkrankungen übertroffen. Von solchen Störungen des Immunsystems sind Frauen unverhältnismäßig häufig betroffen. Was ist der Grund dafür?
Bei einer Autoimmunerkrankung verwechselt dein Immunsystem gesunde Zellen in Organen und Geweben mit fremden Eindringlingen und greift sie an. Autoimmunkrankheiten können fast jeden Teil des Körpers betreffen. Die Fälle von Autoimmunkrankheiten nimmt zu, obwohl die Forscher nicht wissen, warum.
Der Xist-Faktor
Eine neue Studie unter der Leitung von Forschern der Stanford Medicine hat herausgefunden, warum: Es ist der X-Faktor. Die neuen Forschungsergebnisse, die in der Fachzeitschrift "Cell" veröffentlicht wurden, zeigen, dass das zusätzliche X-Chromosom eine Rolle spielt. Frauen haben zwei X-Chromosomen, während Männer ein X und ein Y haben.
Unsere DNA befindet sich in jeder Zelle in 23 Chromosomenpaaren, darunter das letzte Paar, das das biologische Geschlecht bestimmt. Das X-Chromosom ist vollgepackt mit Hunderten von Genen, weit mehr als das viel kleinere Y-Chromosom der Männer. Um Doppelungen in der X-chromosomalen Genexpression zu vermeiden, wird ein X-Chromosom nach dem Zufallsprinzip "stummgeschaltet". Lange RNA-Stränge, Xist ("exist") genannt, und ihre Helferproteine wickeln sich um das stummgeschaltete Chromosom. Da Zellen mit XY-Chromosomen, also Männer, nicht über dieses zusätzliche genetische Material verfügen, produzieren sie überhaupt kein Xist.
Die neue Studie unter der Leitung von Stanford-Forschern zeigt, dass mehrere der Proteine, die Xist zur Unterstützung des Chromosomen-Silencing rekrutiert, Autoantigene sind. Bei Autoimmunkrankheiten sind es die Autoantigene, die den Alarm des Immunsystems auslösen, so dass es den Körper angreift, den es eigentlich schützen soll. Die Forscher wiesen nach, dass dieser Molekülkomplex eine wichtige Triebkraft der Autoimmunität ist, was erklären könnte, warum Frauen anfälliger für diese Art von Krankheiten sind.
Xist-Proteine erhöhen Risiko
Die Forscher testeten, was passiert, wenn das Xist-Gen in zwei verschiedene Stämme männlicher Mäuse eingesetzt wird - einen Stamm, der anfällig für lupusähnliche Autoimmunsymptome ist, und einen anderen, der dagegen resistent ist. Auf diese Weise konnten sie untersuchen, wie das Immunsystem auf Xist reagiert, wenn nur ein X-Chromosom vorhanden ist, und gleichzeitig andere Faktoren ausschließen, die für die hohen Raten von Autoimmunität bei Frauen verantwortlich sein könnten, wie weibliche Hormone oder die zufällige Proteinproduktion durch ein zweites X-Chromosom, das eigentlich inaktiv sein sollte.
Normalerweise entwickeln die Männchen des anfälligen Mäusestamms eine lupusähnliche Autoimmunität in viel geringerem Maße als ihre weiblichen Artgenossen. Als jedoch das eingefügte Xist-Gen aktiviert wurde, begannen sie, die Krankheit mit einer ähnlichen Rate wie anfällige Weibchen zu entwickeln, und zwar mit einer weitaus höheren Rate als Männchen, die nicht zur Produktion des Proteinkomplexes manipuliert worden waren.
Bei den autoimmunresistenten männlichen Mäusen reichte die Aktivierung von Xist nicht aus, damit sie eine Autoimmunerkrankung entwickelten. Bei diesem Stamm sind sogar die Weibchen weit weniger anfällig. Dies deutet darauf hin, dass Menschen mit doppeltem X-Chromosom zwar ein höheres Risiko haben, eine Autoimmunerkrankung zu entwickeln, dies aber wahrscheinlich nur dann der Fall ist, wenn sie bereits eine andere genetische Veranlagung haben. Während viele Menschen für eine Autoimmunerkrankung prädisponiert sind, zeigt dieses Experiment, dass Xist-Proteine das Risiko erhöhen, dass die Krankheit "angeschaltet" wird.
Standardtests bislang nur mit männlichen Zellen
Neben Mäusen untersuchten die Forscher auch Blutproben von 100 Patienten und entdeckten Autoantikörper, die auf Xist-assoziierte Proteine abzielen, die Wissenschaftler zuvor nicht mit Autoimmunerkrankungen in Verbindung gebracht hatten. Ein möglicher Grund dafür ist laut Howard Chang, Professor für Dermatologie und Genetik und Forscher am Howard Hughes Medical Institute, dass die Standardtests für Autoimmunität bislang mit männlichen Zellen durchgeführt wurden. "Daher blieben alle Anti-Xist-Komplex-Antikörper einer weiblichen Patientin – eine wichtige Ursache für die Autoimmunanfälligkeit von Frauen – unentdeckt."