"Heute"-Interview
Grillitsch: "Meine Vielseitigkeit ist Fluch und Segen"
ÖFB-Star Florian Grillitsch spricht im "Heute"-Talk über die "halbe Heim-EM", nicht existenten Lagerkoller und Non-Playing-Captain David Alaba.
"Heute": Herr Grillitsch, Sie stehen im EM-Großkader. Verspüren Sie Vorfreude?
Florian Grillitsch: "Eine EM ist immer etwas Besonders. Das Drumherum, die Aufmerksamkeit, die Medienpräsenz – man spürt das einfach. Dass das Turnier in Deutschland steigt, ist für uns Österreicher natürlich top. Wir haben nicht so weite Wege, es werden viele Fans da sein. Für mich und einige andere ist es eine halbe Heim-EM, zwei Drittel spielen und leben hier. Das ist ein zusätzlicher Pluspunkt. Wir kennen die Gegend und die Stadien bereits."
Apropos Stadien: Österreich spielt in Düsseldorf und Berlin.
"In Deutschland gibt es viele große und moderne Stadien. Von diesem Aspekt wird es an beiden Orten perfekt sein. Der Rasen wird gut sein, die Stadien werden voll sein, es ist angerichtet. Dann geht es nur noch darum, dass wir am Platz unsere Leistung bringen, von Beginn an eine Euphorie entfachen. Wir wollen das ganze Land mitreißen."
Das ist der ÖFB-Kader für die EURO 2024 in Deutschland
Sie sind Stammspieler bei Hoffenheim, wurden heuer Siebenter. Zufrieden mit der Saison?
"Wir hatten sehr gute Spiele, aber auch schlechtere gegen vermeintlich schwächere Gegner. Die Konstanz hat gefehlt. Wenn man sich die Qualität in unserem Kader ansieht, muss man sagen, dass in einigen Partien etwas mehr drin war. So selbstkritisch sind wir. Aber am Ende hat es für den Europacup gereicht. Mit dem Aspekt, dass es letzte Saison bis zum Schluss gegen den Abstieg ging, ist dieses Jahr natürlich besser verlaufen."
Und wie fällt Ihre persönliche Bilanz aus?
"Im Großen und Ganzen fällt mein Fazit ganz gut aus. Ich hatte davor bei Ajax Amsterdam ein schwieriges Jahr, wollte wieder spielen. Das ist mir gelungen. Ich konnte an meine besseren Zeiten anknüpfen, habe einige Scorerpunkte gesammelt. Aber es geht natürlich immer besser, man darf sich nie zufriedengeben."
Meist standen Sie in der Dreierkette. Haben Sie sich mit der Position angefreundet?
"Ich habe es in der Vergangenheit auch schon öfter gespielt. Und es ist ja nicht so, dass ich die ganze Zeit da hinten bleibe. Meine Rolle ist mit und gegen den Ball oft anders. Mit Ball bin ich oft auf der 'Sechs', es variiert also. Meine Einserposition ist schon die im defensiven Mittelfeld. Aber ich nehme die Position in der Abwehr voll an, kann das genauso spielen, das ist kein Thema für mich. Es ist auch vom Gegner abhängig. Ich bin variabel, muss aber meine defensiven Pflichten erfüllen. Das muss in der letzten Linie konsequenter und seriöser sein, als es vielleicht im Mittelfeld der Fall ist."
Ist diese Vielseitigkeit ein Plus?
"Sie ist manchmal Segen, manchmal aber auch Fluch. Man wird mehr herumgeschoben, als wenn man nur eine fixe Position hat. Aber wie gesagt, ich bin nicht so festgefahren, dass ich sage, ich will nur da oder dort spielen."
Gelobt werden Sie auch für Ihre Ruhe am Ball. Ist das Ihre größte Stärke?
"Ich denke schon. Mit Ball versuche ich, mich so gut wie möglich einzubringen. Ich habe ja schon ein paar Spiele am Buckel, auch in der deutschen Bundesliga. Ich kann mit meiner Erfahrung auf die Mannschaft einwirken, weiß in gewissen Situationen sehr gut, was wir brauchen."
Österreichs EM-Gegner heißen Frankreich, Polen und Holland. Wie stehen die Chancen?
"Zu Frankreich muss man nicht viel sagen, das ist derzeit vielleicht die beste Nation Europas. Wir sind Außenseiter, es wird ein schweres Spiel. Wir müssen von der ersten Sekunde an fokussiert sein. Wir haben es in der Vergangenheit gegen große Gegner schon gezeigt, dass wir am Punkt da sein können. Die letzten Spiele haben uns Mut gemacht und gezeigt, wozu wir im Stande sind. Wir müssen uns also nicht kleiner machen, als wir sind – auch wenn wir gegen Frankreich und Holland der Underdog sind. Holland hat wie Frankreich einen tollen Kader mit Spielern, die bei riesigen Klubs kicken. Sie haben gute Eins-gegen-Eins-Spieler. In erster Linie werden wir aber ohnehin immer auf uns und unsere Stärken schauen. Die Polen haben mit Lewandowski einen der besten Stürmer der Welt. Wir müssen hellwach sein. Vom Ansatz her wird es vielleicht ein bisschen ein anderes Spiel. Wir werden wohl mehr den Ball haben. Wir wollen den richtigen Matchplan wählen und gewinnen."
Ihr Hoffenheim-Kollege Wout Weghorst steht im Holland-Kader. Haben Sie eine Wette mit ihm laufen?
"Wette nicht, aber wir haben schon über die EM gesprochen und gescherzt. Ich habe zu ihm gesagt, er soll sich mit den anderen um Rang drei streiten, wenn wir schon durch sind (lacht). Im Endeffekt weiß auch der Wout, dass sie auf dem Papier Favorit sind. Man wird sehen."
Für Sie ist es die zweite EM. Wie wichtig ist die Erfahrung, die Sie 2021 gemacht haben, für das heurige Turnier?
"Jede internationale Erfahrung, auch die beim Klub, hilft weiter. Wir haben ein paar Spieler dabei, für die es die erste EM ist. Aber auch sie haben im Europacup schon Leistung gebracht. Es ist also sicher ein Vorteil, aber kein entscheidender."
Aber zu wissen, wie es ist, ein paar Wochen gemeinsam in einem Camp zu verbringen, schadet vermutlich nicht.
"Wobei das bei der letzten EM gar kein Thema war. Wir hatten nicht annähernd einen Lagerkoller. Ich denke, Ralf Rangnick und sein Team haben alles so top geplant, dass es keinesfalls langweilig wird."
Das ÖFB-Team hat einige Verletze zu beklagen. Zuletzt fiel mit Xaver Schlager ein Schlüsselspieler aus. Sind Sie dadurch noch mehr gefragt?
"Es ist in erster Linie sehr schade, weil Xaver ein wichtiger Faktor in unserem Spiel ist. Aber man kann es nicht ändern, wir müssen nach vorne schauen. Wir werden seinen Ausfall als Team kompensieren, der Nächste wird bereit sein. Natürlich hoffe ich auf so viel Spielzeit wie möglich. Wenn ich spiele, werde ich voll da sein und meine Stärken einbringen."
Schlosshotel Berlin – das EM-Quartier des ÖFB
Rangnick hat vor wenigen Wochen den Bayern abgesagt und als Teamchef verlängert. Gibt euch das einen zusätzlichen Schub?
"Ich denke tatsächlich, dass uns das noch einen weiteren Push gibt. Man hat gesehen, welchen Stellenwert auch wir für ihn haben. Am Ende des Tages hat er Bayern München abgesagt und sich für uns entschieden. Er sieht bei uns, was möglich ist, wie wir uns in den letzten Monaten entwickelt haben. Diesen Weg will er weitergehen, auch nach der EM. Es ist ein sehr positives Signal."
Einer Ihrer besten Kumpels ist Christoph Baumgartner. Teilt ihr euch in Berlin ein Zimmer?
"Nein, jeder hat ein Einzelzimmer. Aber generell ist unser ganzes Team wie eine Familie. Ich weiß nicht, ob man das so nochmal erleben kann. Die Stimmung im Nationalteam ist unter Ralf Rangnick ganz etwas Besonderes. Da kämpft wirklich jeder für jeden. Das ist sicher ein Grund, weshalb unsere Performance so ist, wie sie ist."
David Alaba wird bis zur EM nicht rechtzeitig fit. Ist es dennoch gut, ihn in Berlin dabei zu haben?
"Auf jeden Fall. Er hat internationale Erfahrung ohne Ende, hat alles gewonnen. Er weiß, worauf es ankommt, er ist der verlängerte Arm des Trainers."