Frankreich-Wahl
Frankreich: "Vom Linksrutsch zu sprechen, ist Unsinn"
Der Sieg des Linksbündnisses in Frankreich war eine Überraschung. Doch eine rechte Regierung droht weiterhin, warnt Frankreich-Experte Jacob Ross.
Und plötzlich kam alles anders: Statt eines Triumphs des rechtspopulistischen Rassemblement National resultierte bei den Wahlen in Frankreich am Sonntag ein Sieg des Linksbündnisses Nouveau Front Populaire («Neue Volksfront»). Gegenüber dem Heute-Partnermedium "20 Minuten" ordnet Frankreich-Experte Jacob Ross die Lage ein.
Nach den klaren Prognosen und dem ersten Wahlgang kam eine Woche plötzlich alles anders. Was ist passiert?
Jacob Ross: Erst einmal muss festgehalten werden, was nicht passiert ist. Nämlich ein großer Stimmungsumschwung an der Urne. Es haben nicht plötzlich Millionen Menschen anders gewählt als vor einer Woche.
Wie ist das Wahlergebnis dann zustande gekommen?
Hauptsächlich durch kluges Taktieren. Die Abstimmung zwischen Macrons Bündnis und dem Linksbündnis ist aufgegangen: In sehr vielen Wahlkreisen haben sich die Drittplatzierten zurückgezogen, wenn die Zweitplatzierten deutlich bessere Chancen hatten, den Rassemblement National von Le Pen und Bardella (RN) zu schlagen – egal, von welchem Bündnis sie waren.
„"Das RN hat klar am meisten Stimmen geholt und konnte den positiven Trend seit 2012 fortsetzen."“
Also hat der RN gar nicht verloren?
Die Wahl der Nationalversammlung schon, doch. Von einem Linksrutsch in Frankreich zu sprechen, halte ich dennoch für Unsinn. Der RN hat klar am meisten Stimmen geholt und konnte den positiven Trend seit 2012 fortsetzen.
Wieso wurde der RN zur stärksten Partei?
Die Menschen in Frankreich sind aus verschiedenen Gründen unzufrieden. Weil vom Lohn immer weniger übrigbleibt. Weil Menschen auf dem Land beklagen, dass nur in den urbanen Zentren investiert werde und die Spitäler und Schulen dort, wo sie wohnen, immer schlechter werden. Weil die Menschen sich vor unkontrollierter Zuwanderung und Identitätsverlust fürchten.
Welche Lösungen hat das Linksbündnis gegen diese Probleme denn zur Hand?
Sie haben jetzt bis zu den nächsten Wahlen 2027 Zeit, diese Frage zu beantworten. Und das müssen sie, wenn sie einen Wahlsieg des RN 2027 verhindern wollen. Klar ist: Das alles wird sehr viel Geld kosten. Das Linksbündnis hat bislang eher auf soziale Themen gesetzt, wie Mindestlöhne oder die Rentenreform rückgängig zu machen. Ob das reichen wird, um die Menschen zu überzeugen, nicht mehr der RN zu wählen, wage ich aber zu bezweifeln.
Wie könnte die Politik bis 2027 denn aussehen?
Das Linksbündnis wird sicher den Anspruch haben, den Premier zu stellen. Macron und seine Verbündeten werden versuchen, die gemäßigten Links-Parteien aus diesem Bündnis herauszulösen und gemeinsam mit den gemäßigteren Rechtsparteien eine Koalition zu bilden. Wahrscheinlicher ist aber, dass Macron mit dem ganzen Linksbündnis eine Koalition bilden muss. Klappt das auch nicht, könnte eine technokratische Übergangsregierung gebildet werden, bis die Nationalversammlung in einem Jahr erneut aufgelöst und neu gewählt werden könnte. Es wird auf jeden Fall schwieriger für Macron – innen- wie außenpolitisch.
Was heißt das ganz konkret für die Menschen in Frankreich, welche Veränderungen werden sie spüren?
Die erwähnten Probleme, die die Bevölkerung belasten und die zum Zulauf für den RN geführt haben, werden nicht einfach verschwinden. Es gibt keine schnellen Lösungen. Was es jetzt braucht, ist ein Plan der neuen Regierung, wie die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger glaubhaft angegangen werden sollen.
„Macron wird in der EU nicht mehr seinen unwidersprochenen Kurs der Unterstützung für die Ukraine fahren können.“
Hat Macrons Ansehen auch außenpolitisch gelitten?
Davon ist auszugehen. Er wird in der EU nicht mehr unwidersprochen seinen klaren Kurs der Unterstützung für die Ukraine und der roten Linien gegenüber Putin fahren können. Auch in der Haltung zum Gaza-Krieg ist ein substanzieller Richtungswechsel Frankreichs absehbar.
Bei den Europawahlen gab es einen Rechtsrutsch, jetzt kam es innerhalb weniger Tage in Großbritannien und Frankreich zu linken Wahlsiegen. Ein Gegentrend?
In UK kenne ich die Verhältnisse nicht gut genug, aber in Frankreich war es das nicht. Wie gesagt: Das war zwar ein linker Wahlsieg, den RN hat aber mit Abstand die meisten Stimmen geholt und seinen positiven Trend fortgesetzt. Der RN hat sich in den letzten Jahren in die Mitte bewegt, war bemüht, sein rechtsextremes Image abzulegen und die Menschen für sich zu gewinnen – und das ist gelungen.