Alarmsignal für Demokratie
Forscher enthüllt "Wahlmanipulationen im großen Stil"
ETH-Forscher Dirk Helbing warnt: Die Politik hat die Digitalisierung verschlafen, Manipulatoren inzwischen die "Grundpfeiler der Demokratie zerstört".
Jeder, arm oder reich, hat am Wahltag nur eine Stimme – alle zählen gleich viel. Das ist eines der fundamentalen Prinzipien, auf denen sich unsere moderne Demokratie gründet. Doch diese wurden inzwischen von vermögenden Manipulatoren mithilfe neuer digitaler Werkzeuge völlig ausgehebelt, sagt Soziologe und Physiker Dirk Helbing in einem Interview mit dem "Standard".
DeepFakes, Desinformation und Bot-Armeen fluten gerade das Internet in bisher ungekannten Ausmaß. Die so chancenreiche Digitalisierung scheint für die freien Demokratien der Welt gerade zum Bumerang zu werden.
"Wir haben auf dem Weg ein paar Abzweigungen verpasst, sind in die falsche Richtung gefahren, und jetzt müssen wir das ausbaden", betont der Professor für Computational Social Science an der ETH Zürich. Besonders heftig aber vielen nicht bewusst, sei die Kombination aus Profiling, Scoring und Targeting.
Hinter den englischen Fachbegriffen verbirgt sich das Prinzip der Auswertung persönlicher Nutzerprofile, um danach die jeweiligen Nutzer gezielt mit passgenauen Inhalten anzusprechen. Bekannt ist das etwa aus der Online-Werbung, doch es geht schon viel viel weiter.
"Das hat insbesondere drei der Grundpfeiler der Demokratie erschüttert, um nicht zu sagen zerstört. Und zwar die freie Wahl, die geheime Wahl und das Prinzip 'eine Person, eine Stimme'."
Die geheime Wahl gebe es schon nicht mehr, weil mit modernen Methoden aus den öffentlichen Daten das Wahlverhalten des jeweiligen Nutzers akkurat vorhergesagt werden kann – mit Microtargeting wird dann auf jeden einzelnen eingewirkt und auch manipuliert. "Das heißt, auch die freie Wahl ist infrage gestellt:"
Und es zementiert ein uraltes Sprichwort: Geld regiert die Welt. Diejenigen mit dem meisten Geld können dadurch die öffentliche Meinungsbildung wie nie zuvor forcieren und "fast so etwas wie Stimmenkauf betreiben". Plötzlich hat ein superreicher Akteur dann nicht mehr nur eine Stimme. Helbing warnt: "So war die Demokratie nicht gedacht."
Krieg um unsere Köpfe
Schon jetzt gebe es weltweit "Wahlmanipulation in großem Stil", so der Experte. Maßnahmen wie ein Microtargeting-Verbot für Parteien kämen zu spät und seien wirkungslos, weil es auch außerhalb passiert. "Wenn man etwa Stimmung gegen Zugewanderte schürt, weiß man ja, welche Parteien davon profitieren."
Der Forscher möchte Bewusstsein für die Macht dieser Manipulationsmethoden schaffen: "Je mehr man weiß über die Menschen, desto gezielter kann man versuchen, sie in bestimmte Richtungen zu lenken in ihrem Denken, Fühlen und Handeln. Im Grunde genommen ist Targeting nichts anderes als eine moderne Waffe im Informationskrieg."
Nicht nur geopolitische Supermächte kämpfen in diesem Krieg um unsere Köpfe, sondern auch Werbefirmen und IT-Unternehmen. Sie alle wollen uns in ihrem Sinn beeinflussen, erklärt der Soziologe. "Es ist so, als würden gleichzeitig mehrere Leute die ganze Zeit auf uns einreden, was wir jetzt tun sollen. Das kann nicht im Sinne einer selbstbestimmten, aufgeklärten Entscheidungsfindung sein." Die Begleiterscheinungen würden wir gerade erleben: massenhaft Hate-Speech, Fake News und eine Desinformationspandemie.
Der öffentlich bekannt geworden Cambridge-Analytica-Skandal sei nur die Spitze des Eisberges, weiß er. Damals wurden Millionen Facebook-Daten für gezieltes Microtargeting im US-Wahlkampf 2016 (gewann Donald Trump) und der Brexit-Kampagne missbraucht.
"Allerdings sind im letzten Jahrzehnt mehr als 60 Demokratien mit solchen Methoden unterminiert worden. Das ist nach wie vor zu wenig bekannt", mahnt Dirk Helbing. Die Aussichten sind düster: "Wenn es möglich ist, Regierungsbildungen auf diese Art und Weise zu beeinflussen, können über die Zeit Gesellschaften umgebaut werden. Die Schutzmechanismen der EU sind offensichtlich nicht ausreichend, und in anderen Weltregionen gibt es noch weniger."
"So werden unsere Grundrechte zu Geld gemacht"
Schuld an dieser prekären Lage ist mitunter die Politik selbst. Diese habe die großen Chancen der Digitalisierung verschlafen. Die neuen Möglichkeiten, die Herausforderungen der Zukunft solidarisch und kooperativ anzugehen, wurden eher unterminiert als unterstützt. Jetzt haben wir den Scherben auf.
Anstatt Datensätze, Künstliche Intelligenz und andere Infrastrukturen über die öffentliche Hand allen verfügbar zu machen, haben sich diese Großkonzerne unter den Nagel gerissen – und diese lassen uns alle für die Nutzung kräftig bezahlen.
"Da sieht man das Totalversagen der Politik. All das, was öffentlich hätte sein müssen, ist nun privat, daher geht es nicht mehr um die Lösung von Problemen, sondern um Profitmaximierung. [...] Es geht nur noch um den blanken Kampf um Geld und Macht, anstatt dass man sich fragt, wie wir das Wirtschaftssystem reparieren, das für Mensch und Umwelt nicht mehr richtig funktioniert."
Firmen wie Meta (Facebook) hätten die Räume der Meinungsbildung im Internet besetzt. Gleichzeitig hätten sich KI-Tools wie ChatGPT das gesamte Menschheitswissen kostenlos einverleibt und kommerzialisiert. In weiterer Folge drohen dadurch auch massiv an Jobs verlorenzugehen. Alleine in Großbritannien bis zu 8 Millionen, laut einer aktuellen Studie.
"So werden unsere Grundrechte zu Geld gemacht", klagt Helbing. "Das ist vielleicht die brutalste Ausbeutung, die wir jemals hatten. Den meisten ist nicht klar, wie mächtig die im Hintergrund entstandenen Tools sind, die vor allem Partikularinteressen dienen". Seine Mahnung: "Wenn es anfängt wehzutun, ist es vielleicht schon zu spät, die Spirale zurückzudrehen."
Bürger wirken lassen
Er plädiert auf ein Herumreißen des Ruders und für eine deutliche Aufstockung der bisher vergleichsweise knappen Geldmittel für die Digitalisierung des Staates. Der Forscher stellt sich dabei etwa eine Demokratisierung von Projekten über staatliche Plattformen vor, wo jeder Bürger mitwirken könne.
Bei einem Pilotversuch im Schweizerischen Aarau etwa habe sich herauskristallisiert, dass die klassische Mehrheitsabstimmung "eines der schlechtesten Verfahren" für solche Prozesse sei, weil erstens die Projektkosten nicht berücksichtigt wurden und es wegen des Bevölkerungsüberhangs eine Verzerrung zur Stadtmitte hin gab. Die Peripherie sei dadurch benachteiligt gewesen.
Wurde die nötige Stimmzahl aber im Tandem mit den Kosten gewichtet – teure Projekte brauchten mehr Stimmen – habe sich nicht nur die Vielfalt erhöht. "Es gab auch mehr Transparenz, was wiederum zu mehr Vertrauen, Zufriedenheit und einer höheren Beteiligung geführt hat". Das wichtigste Fazit: "Wir haben gelernt, wie man eine Gesellschaft sich selbst organisieren lassen kann, auf Basis von Projekten. Diese Prozesse könnten natürlich auch mit digitalen Plattformen unterstützt werden."
Wie es besser geht
Seine Vision eines digitalen Upgrades unserer Demokratien ist, dass jeder Bürger an mehreren Projekten beteiligt ist – und das quer über alle Themenbereiche hinweg. Manche würde man unterstützen, bei anderen selbst an der Organisation mitwirken.
"Wir hätten digitale Plattformen, mit denen wir Unterstützer und Mitstreiterinnen mit den geeigneten Qualifikationen finden können und die den Prozess mit KI-Tools organisieren helfen. Das würde uns alle befähigen, größere Beiträge zu unserem lokalen Umfeld und zu unserer Zukunft zu leisten", zeichnet der Digitalisierungsexperte sein Bild einer schönen neuen Zukunft.
Was es dazu ihm zufolge bräuchte? Mehr Geld, administrative Unterstützungen und kostenlose öffentliche Plattformen für die Abwicklung.
"Demokratische Innovation ist möglich. Wir können die Demokratie upgraden, die kollektive Intelligenz zur Entfaltung bringen, wenn es den politischen Willen dafür gibt. Damit wären die Leute zufriedener, die Lösungen besser. Und die Industrie würde natürlich auch etwas daran verdienen."