Eskalation im Libanon
"Der Hisbollah gelingt es, Israel vorzuführen"
Was passiert, wenn Israel die Drohungen wahr macht und im Libanon die Offensive gegen die Hisbollah startet? Antworten von Militärexperte Roland Popp.
Im Nahen Osten dreht sich die Eskalationsspirale weiter und es wächst die Angst: Israel sagt, es habe operative Pläne für eine Offensive im Libanon genehmigt. Die Hisbollah, die vom Iran unterstützte libanesische militante Gruppe, will dann "ohne Regeln und Einschränkungen" kämpfen.
"Diese Drohungen mögen übertrieben sein, aber sie erhöhen das Risiko einer Fehleinschätzung, die zu einem umfassenden Krieg führen könnte", schreibt die "Financial Times". Wie wahrscheinlich ist das und was wären die Folgen? Antworten von Roland Popp, Nahostexperte und Militärhistoriker der Milak an der ETH Zürich.
Herr Popp, rechnen Sie mit einer Libanon-Offensive?
Das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwer zu sagen. Dass es Einsatzpläne für eine solche Offensive gibt, kann aber nicht überraschen, zumal militärische Kriegsplanung fortwährend stattfindet. Auch dass der Druck vonseiten militärischer Kreise zunimmt, auf die Angriffe der Hisbollah zu reagieren, ist keine Überraschung. Dennoch: Aus der politischen und strategischen Perspektive würden einen die Umstände dazu anhalten, damit eher zu warten.
Wieso besser warten?
Nicht zuletzt, weil eben auch der militärische Gaza-Konflikt weitaus länger geht, als es von den meisten Beobachtern erwartet wurde – und angesichts der Ziele, die man sich selbst gesteckt hat, wohl nicht erfolgreich zu Ende zu bringen ist. Es ist das Dilemma eines Krieges, den man begonnen hat, aber nicht beenden kann. Dann einen zweiten anzufangen, bei gleichzeitig starker Ressourcenanspannung, erscheint mir strategisch nicht weise. Das heißt nicht, dass es in der Geschichte nicht schon häufig genug vorgekommen ist.
Seit Beginn des Krieges zwischen Israel und der Hamas vor über acht Monaten feuert die vom Iran unterstützte und mit der Hamas verbündete Hisbollah Raketen und Drohnen auf Israel ab. Zehntausende Menschen im Norden Israels mussten seitdem ihre Häuser verlassen. Israel reagiert auf den Beschuss verstärkt mit Angriffen auf Hisbollah-Stellungen im Südlibanon. Laut einer Zählung der Nachrichtenagentur AFP wurden seit Oktober mindestens 480 Menschen getötet, die meisten von ihnen militante Kämpfer. Aber auch 93 libanesische Zivilisten. Nach israelischen Angaben wurden auf der israelischen Seite der Grenze mindestens 15 Soldaten und elf Zivilisten getötet.
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Was wäre denn Israels Ziel einer solchen Offensive?
Vermutlich, die Hisbollah im Südlibanon hinter den Fluss Litani zurückzudrängen und militärisch stark zu schwächen. Das würde sicherlich auch Angriffe auf Städte beinhalten, insbesondere auf Beirut – wobei dies nicht vergleichbar wäre mit den erschütternden Bildern, die uns inzwischen tagtäglich aus dem Gazastreifen erreichen. Insofern wäre eine Offensive militärisch nachvollziehbarer. Denn jede Regierung wäre unter starkem Druck, auf die Situation zu reagieren, welche die Hisbollah mit ihren Angriffen auf den Norden Israels heraufprovoziert hat.
Was will die Hisbollah mit ihren Angriffen auf Israel erreichen?
Es ist eine ganz bewusste Strategie der Hisbollah, um die israelischen Kräfte zu verzetteln und auch die Angriffsstärke der Israelis auf Gaza zu begrenzen. Auch will die Hisbollah große wirtschaftliche Schäden verursachen, was ja erfolgreich gelingt: Im Norden Israels musste man große Evakuierungen vornehmen. Dazu kommt der immense Prestigeverlust. Die Hisbollah zeigt hier ein weiteres Mal, wie geschickt sie den Propagandakrieg nutzt und wie es ihr gelingt, die überlegenen Israelis vorzuführen. Bei dieser bewussten Provokation geht die Hisbollah gewaltige Risiken ein – eben, dass man eine israelische Offensive provoziert.
Lassen sich die Folgen einer solchen Offensive abschätzen?
Das hängt davon ab, wie die Hisbollah wiederum auf militärische Angriffe reagieren würde: mit einer weiteren Eskalation oder mit einem Zurückstecken, das wissen wir nicht. Auch fragt sich, ob sich das überhaupt militärisch umsetzen lässt, was die Israelis erreichen wollen. Denn um ein Ende der Raketenangriffe auf Israels Norden zu erreichen, müsste man die Hisbollah relativ weit von der libanesisch-israelischen Grenze zurückdrängen. Man würde exakt in dem Territorium kämpfen müssen, in dem man im großen Libanonkrieg von 2006 militärische Niederlagen erlitten hatte gegen eine Hisbollah, die noch bei weitem nicht so gut ausgerüstet und ausgebildet war wie heute. Insofern habe ich immer noch das Gefühl, dass man in Israel vor allem auf Drohgebärden setzt. Nicht zuletzt, weil diese Drohungen auch eine innenpolitische Dimension haben.
Wie meinen Sie das?
Israels Drohgebärden halten im Land einen Alarmzustand in Kraft. Und nur solange dieser Notfallzustand in Israel vorherrscht, kann Ministerpräsident Netanyahu sich seiner Macht einigermaßen sicher sein.