Wenig Hoffnung für Ukraine
"Auch 500.000 neue Soldaten reißen das Ruder nicht rum"
Die Ukraine braucht im Krieg mit Russland mehr Militär. Für Wissenschafter Härtel ist nur ein Endszenario denkbar –egal, wie viele Soldaten es gibt.
In Kiew zanken sich Politik und Militär um die richtige Strategie und unpopuläre Mobilisierungsentscheide. Am Mittwochabend feuerte der ukrainische Präsident Selenski seinen Armeechef.
Die Rekrutierungsbüros schaffen derweil Fakten: Junge Männer müssen fürchten, auf offener Straße vom Fleck weg mitgenommen zu werden und an der Front zu landen. Wer sich weigere, dem solle man ins Knie schießen, sagte unlängst ein Kommandant.
Wegfallende Standards aus Friedenszeiten
"In der Ukraine passieren unter Zwang und Druck auch Dinge, die das Bild einer demokratischen und transparenten Ukraine, die auf dem Weg der Verwestlichung und Europäisierung ist, einfärben", bestätigt André Härtel. "Wenn man sich aber in einem existenziellen Kampf befindet, werden viele Standards aus den Friedenszeiten schnell nicht mehr eingehalten", erklärte der Ukraine- und Sicherheitsexperte.
Schattenmobilisierung in Russland
Zwar sei es wahrscheinlich, dass neben der Korruption in der ukrainischen Einberufungsbehörde immer wieder Maßnahmen der Zwangsrekrutierung gab und gibt - "doch wir wissen nicht, wie großflächig diese sind".
Laut dem Experten gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass die Mobilisierung in der Ukraine Formen annimmt, wie sie in Russland zu beobachten sind: "Dort werden in einer Schattenmobilisierung täglich mehrere Hunderte ausgehoben."
Das größte Geheimnis des Krieges
Nach Angaben des russischen Präsidenten Wladimir Putin lag die Gesamtzahl der russischen Soldaten im Kriegsgebiet bei 617.000. Experten halten dies aber für zu hoch gegriffen. Die wahren Verlustzahlen beider Seiten sind das vielleicht am besten gehütete Geheimnis seit der russischen Invasion am 24. Februar 2022.
Nach einer umstrittenen Teilmobilisierung 2022 von etwa 300.000 Mann versucht nun auch der russische Präsident Wladimir Putin, eine weitere Einberufungswelle zu verhindern.
"Dazu argumentiert man in Moskau auch, dass man genügend Freiwillige hat - was aufgrund der hohen materiellen Anreize nicht unwahrscheinlich ist", sagt Härtel. Allerdings seien weitere Einberufungen auch in Russland unpopulär. Putin könnte damit bis zum Ende der Präsidentschaftswahlen warten.
Auch 500.000 Soldaten reißen Ruder nicht herum
Dem stehen in der Ukraine die Diskussionen um eine Einberufung von bis zu 500.000 Mann gegenüber. "Doch auch dies wird angesichts der russischen Mobilisierungsmöglichkeiten den Kriegsverlauf nicht herumreißen. Denn trotz westlicher Waffenlieferung ist dies immer noch ein stark asymmetrischer Krieg", sagt Härtel.
Ginge es allein um Manpower und die militärischen Kapazitäten beider Staaten, würde sich Russland auf Dauer immer durchsetzen. Der Ukraine bleibt nichts anderes übrig, als sich diesem ungleichen Kampf zu stellen.
"Ein anderes Ziel ist nicht realistisch"
Dabei muss Kiew versuchen, Zeit zu gewinnen - und auf Faktoren zu hoffen, auf die man nur bedingt Einfluss hat: die westlichen Waffenlieferungen, die weltweite Diplomatie für einen Friedensplan und die langfristige Wirkung der Sanktionen gegen Russland.
"Das Ziel ist am Ende, dass man das Kosten-Nutzen-Kalkül Putins mit der Zeit so verändern kann, dass er sich dann eben doch auf Verhandlungen einlässt und von seine Maximalforderungen reduziert", sagt Härtel.
"Ein anderes Ziel ist nicht realistisch. Dass die Ukraine das gesamte Gebiet befreit und zügig das grüne Licht für einen Nato- und EU-Beitritt erhält, ist Stand heute eine Illusion."
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Auf den Punkt gebracht
- Trotz Diskussionen über die Einberufung von bis zu 500.000 Mann sieht der Ukraine- und Sicherheitsexperte André Härtel wenig Hoffnung für die Ukraine im Krieg mit Russland, da selbst 500.000 Soldaten das Ruder angesichts der asymmetrischen Kriegsführung nicht herumreißen könnten
- Die Ukraine bleibt daher darauf angewiesen, Zeit zu gewinnen, auf westliche Waffenlieferungen und Diplomatie zu hoffen und die langfristige Wirkung der Sanktionen gegen Russland abzuwarten, um letztendlich Präsident Putin zu Verhandlungen zu bewegen und seine Maximalforderungen zu reduzieren