Nocebo-Effekt

Antidepressiva – So viele haben Entzugserscheinungen

Eine neue Studie gibt Auskunft über das Auftreten von Absetzerscheinungen beim Absetzen von Antidepressiva.

Heute Life
Antidepressiva – So viele haben Entzugserscheinungen
Der Einsatz von Antidepressiva ist nicht nur bei Depressionen, sondern auch anderen psychischen Beschwerdebildern angezeigt.
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Man kann wirklich froh sein, im heutigen Zeitalter der modernen Medizin zu leben. Waren früher manche Krankheiten noch unheilbar oder bedeuteten den sichereren Tod, gibt es heute gegen vieles eine Schutzimpfung oder wirksame Medikamente. Auch auf dem Gebiet der Psychiatrie hat sich punkto Behandlung viel getan. Oft kommen sogenannte Antidepressiva zum Einsatz, die neben Depressionen auch bei anderen psychischen Beschwerden eingesetzt werden. Ihre Erfindung hat vielen Menschen das Leben gerettet. Die modernste Form sind die sogenannten Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI). In Österreich gehören sie zu den am häufigsten verschriebenen Arzneimitteln.

Jede nach Beschwerdebild kann eine lebenslange Einnahme angezeigt sein oder können über eine temporär schwierige Phase hinweghelfen. Wer seine Antidepressiva absetzen möchte, darf das keinesfalls eigenmächtig tun, sondern immer unter ärztlicher Begleitung. Etwa 15 Prozent der Betroffenen berichten von Symptome im Zusammenhang mit dem Einnahme-Stopp, obwohl das Medikament nicht abhängig macht. In einer neuen Studie haben deutsche Wissenschaftler nun herausgefunden, dass die Symptome zur Hälfte andere Ursachen haben.

Das Team um Christopher Baethge, Wissenschafter an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Uniklinik Köln und Jonathan Henssler, Leiter der Arbeitsgruppe Evidence-Based Mental Health an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité die aktuelle Studienlage punkto Absetzungssymptomatik durchforstet und neu ausgewertet.

6.000 Forschungsarbeiten wurden gesichtet, von denen sie 79 Arbeiten auswählten und deren Ergebnisse statistisch neu analysierten. Insgesamt kamen damit Daten von 21.000 Personen zusammen, die entweder ein Antidepressivum oder ein Scheinpräparat (Placebo) erhalten hatten und anschließend zur Häufigkeit von Absetzerscheinungen befragt worden waren.

Nocebo-Effekt

Henssler erklärt das Hauptergebnis: "Unsere Auswertung zeigt, dass im Schnitt jede dritte Person nach Beendigung der Antidepressiva-Behandlung Symptome erlebt. Allerdings ist nur die Hälfte der Symptomatik tatsächlich auf die Arzneimittel zurückzuführen."

31 Prozent derjenigen, die ein Antidepressivum bekommen hatten, berichteten zwar von Absetzungserscheinungen – interessanterweise aber auch 17 Prozent der Placebo-Gruppe. Wie ist das möglich? Henssler erklärt: "In der Placebo-Gruppe sind medikamentöse Effekte auszuschließen, die Symptome sind also entweder darauf zurückzuführen, dass sie zufällig unabhängig von der Therapie auftraten, oder sie sind eine Folge des Nocebo-Effekts".

Der Nocebo-Effekt wird oft als "Bruder des Placebo-Effekts" bezeichnet und beschreibt die Beobachtung, dass Scheinbehandlungen mit "Nebenwirkungen" einhergehen können. Sie entstehen allein durch die psychische Erwartungshaltung, dass die Therapie, die man zu erhalten glaubt, negative Folgen haben wird.

Jeden Sechsten oder Siebenten treffen Absetzungserscheinungen

"Wenn wir unspezifische Symptome und den Effekt der Erwartungshaltung berücksichtigen, ist etwa jede sechste oder siebte Person von Absetzerscheinungen betroffen, die als eigentliche Folge der Antidepressiva-Medikation auftreten", fasst Dr. Jonathan Henssler zusammen. "Diese sind größtenteils mild. Die überwiegende Mehrheit der Betroffenen wird Antidepressiva ohne relevante Symptome absetzen können. In den allermeisten Fällen ist daher kein langwieriges oder kleinschrittiges Ausschleichen der Medikation nötig."

Absetzungserscheinungen, die beim Ausschleichen von Antidepressiva auftreten können, werden heute unter dem Begriff Antidepressiva-Absetzsyndrom (antidepressant discontinuation syndrome, ADS) zusammengefasst.
Dazu können moderate Beschwerden zählen, wie beispielsweise Schwindel, Schlafstörungen oder Übelkeit, aber auch beunruhigende, stromschlagartige Missempfindungen im Gehirn ("brain zapps") oder klinisch relevante Symptome wie Suizidgedanken.
In jedem Fall ist ein Absetzen immer mit dem Arzt abzusprechen!

Schwere Symptome bei 3 Prozent

Der Studie zufolge entwickelte eine von 35 Personen, also knapp drei Prozent der Betroffenen, Absetzsymptome schweren Ausmaßes. Gehäuft traten diese nach Beendigung der Therapie mit den Wirkstoffen Imipramin, Paroxetin, Venlafaxin und Desvenlafaxin auf. Für einige häufig verwendeten Stimmungsaufheller lagen noch nicht genügend Informationen vor, um für sie eine Einschätzung treffen zu können.

"Vermutlich ist die Symptomatik Ausdruck einer sich neu ordnenden Neurotransmitterkonstellation im Gehirn, von der Anwender aller Antidepressiva-Klassen betroffen sind", schreibt die Deutsche Apothekerzeitung. Deshalb betont Prof. Dr. Christopher Baethge: "Es ist wichtig, dass alle Menschen, die eine Behandlung mit Antidepressiva beenden wollen, ärztlich eng begleitet und im Falle von Entzugssymptomen individuell unterstützt werden. Eine gemeinsame Entscheidungsfindung zwischen Betroffenen und Behandelnden, schon vor Beginn einer Therapie, ist die Basis für eine gute Behandlung."

Auf den Punkt gebracht

  • Antidepressiva sollten nicht eigenmächtig abgesetzt werden, sondern unter ärztlicher Begleitung, da starke Symptome drohen
  • Eine neue Studie hat ergeben, dass etwa jede dritte Person nach dem Absetzen der Medikamente Symptome erlebt, wobei nur die Hälfte der Symptome tatsächlich auf die Arzneimittel zurückzuführen ist
  • Etwa drei Prozent der Betroffenen entwickeln schwere Absetzsymptome, daher ist eine ärztliche Begleitung und individuelle Unterstützung wichtig
red
Akt.