"Aufgeheizte Stimmung im Land"
Anfeindungen, Ängste, AfD – was ist in Deutschland los?
Zuletzt bekam Vizekanzler Robert Habeck die Wut der Bauern zu spüren. Überhaupt liebt das Volk weder Ampelkoalition noch Kanzler Olaf Scholz mehr.
Hundert Bauern hinderten ihn wegen gestrichener Subventionen daran, seine Fähre in Schlüttsiel, Schleswig-Holstein, zu verlassen. Jetzt zeigt sich der deutsche Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) besorgt über das gesellschaftliche Klima in Deutschland. "Was mir Gedanken, ja Sorgen macht, ist, dass sich die Stimmung im Land so sehr aufheizt", so der Vizekanzler am Freitag. Derlei Aktionen seien einer Demokratie nicht würdig, heißt es vom Deutschen Bauernverband.
Dabei sind die wütenden Bauern und der bedrängte Minister nur eine von vielen Schlagzeilen aus Deutschland, die uns fragen lassen: Was ist eigentlich los beim großen Nachbarn?
Die Angst der Politik: Der AfD-Erfolg versetzt die Regierungsparteien in Panik. Im Herbst 2024 sind Landtagswahlen. In drei mittel- und ostdeutschen Bundesländern (Thüringen, Brandenburg, Sachsen) ist die AfD zackig an der 20-Prozent-Marke vorbeimarschiert und Nummer Eins. Für die Ampel-Parteien tut sich in den Bundesländern im Osten der Republik dagegen ein Abgrund auf. In Sachsen kommen SPD, FDP und Grüne gemeinsam auf gerade einmal elf Prozent. Die SPD verpasste demnach mit drei Prozent sogar den Einzug in den Landtag. So wird erwartet, dass das Wahlergebnis "das Parteiensystem der Bundesrepublik auch jenseits der Landesparlamente mit nachhaltiger Wirkung erschüttern" wird, wie das Polit-Magazin Cicero schreibt.
Die Regierungsparteien wollen den AfD-Schnellzug mit demokratisch eher fragwürdigen Mitteln verhindern: Neben einer Verfassungsänderung in Thüringen wird bundesweit rege die Prüfung eines Verbotsverfahrens gegen die AfD diskutiert. Befürworter sehen die Demokratie in Gefahr, zumal der deutsche Verfassungsschutz die AfD-Landesverbände wie Thüringen und Sachsen als "gesichert rechtsextremistische Bestrebung" einstuft.
Die Wut der Bürger: In Deutschland "passen die Beschreibungen vieler Politiker und die Erfahrungen vieler Bürger nicht mehr zusammen", beobachtet die NZZ. Vier von fünf Bundesbürgern sind gemäß der jüngsten Sonntagsfrage mit der Ampelkoalition unzufrieden und die Beliebtheitswerte von Bundeskanzler Olaf Scholz im Keller. So unbeliebt war nach Angaben des WDR kein Kanzler seit Beginn der Erhebungen 1997. "Ampel-Koalition" ist fast schon ein Schimpfwort.
Einer aktuellen Umfrage der "Zeit" zufolge glauben 53 Prozent der Deutschen, dass es "unwahrscheinlich" sei, dass SPD, Grüne und FDP noch bis 2025 weiterregieren. Einen Fortbestand der Koalition halten nur 43 Prozent für wahrscheinlich. Deutschland, so das Magazin Cicero, sei eine "Republik ohne Führung". Die Kernprobleme in Stichworten: stockende Wirtschaft bei steigender Steuer- und Abgabenlast, Migration, überarbeitete Justiz, Bildungsrückgang, marode Bundeswehr, veraltete Infrastruktur.
Der Erfolg der Anti-Demokraten: In Deutschland sind antidemokratische Kräfte im Aufwind, während die "demokratische Mitte brüchig geworden ist", kommt eine Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung zum Schluss. Mitverursacht haben dies die Erfahrung der unterschiedlichen Krisen der jüngsten Zeit, so die Vermutung: Coronapandemie, Ukrainekrieg, Energiekrise und Inflation haben bei vielen Menschen ein Gefühl der "Entsicherung" bewirkt. Zugleich gibt es neue demokratiefeindliche Akteure wie die "Reichsbürger" oder die "Libertär-Autoritären", die Demokratie und politische Parteien ablehnen und häufig Gewalt als politisches Mittel befürworten. Antidemokratische, extrem rechte Einstellungen haben sich ins bildungsbürgerliche Milieu gemischt.
Die bangenden Behörden: 4000 Polizisten schützten Berlin in der Silvesternacht. Dabei wurde nicht das erste Mal deutlich, dass in Deutschland die Sicherheit im öffentlichen Raum erodiert. Das hat nicht ausschließlich, aber auch mit der Migration zu tun. Die gesteuerte Zuwanderung im Land soll zwar begrenzt werden. In der Praxis geschieht dies nicht: Abgelehnte Asylbewerber werden kaum ausgeschafft, die Kommunen sind mit der Unterbringung der Migranten schon länger überfordert. "Da lauert eine soziale wie ökonomische Herausforderung ungeahnten Ausmaßes", so die NZZ. "Sie hat das Potenzial, Deutschland umzugestalten."