Neuer Labour-Premier
Ab Samstag könnte er Briten regieren – wer ist Starmer?
In Großbritannien wird Keir Starmer wahrscheinlich der erste linke Regierungschef seit 14 Jahren. Doch kaum einer kennt ihn.
Es müsste für Labour schon sehr schieflaufen, sollte Parteichef Keir Starmer nach der Parlamentswahl nicht in 10 Downing Street einziehen. Jüngste Umfragen prognostizieren einen historischen Wahlerfolg: Die Partei könnte im Unterhaus auf 484 der insgesamt 650 Sitze kommen – und damit sogar den Erdrutschsieg vom Jahr 1997 unter Tony Blair übertreffen.
Nach Jahren geprägt von Brexit, Corona, Wirtschaftskrise und jeder Menge Skandale scheinen die Wähler eine Veränderung herbeizusehnen. Dabei ist der 61-jährige Starmer ein Spätberufener der Politik. Oder wie er selbst sagte: "Leute wie ich gehen nicht in die Politik."
"Was nicht zum Lachen ist"
Starmer – Velofahrer und Arsenal-Fan – gilt als trocken, uncharismatisch, unspontan und höchstens unfreiwillig komisch. Unlängst erntete er Stöhnen und Gelächter aus dem Publikum, als er in einer Debatte sein Quasi-Mantra wiederholte, dass sein Vater Werkzeugmacher und seine Mutter Krankenschwester gewesen seien.
Der Labour-Vorsitzende unterstreicht gern seine einfache Herkunft, um sich vom vermögenden Tory-Premier Rishi Sunak abzuheben. Er habe immer gekämpft, sagt er mit Blick auf die chronische Krankheit seiner Mutter, welche die Familie prägte.
Mitunter sagt Starmer auch Dinge, die ihn mehr angreif- als nahbar machen: So geschehen, als er erklärte, er hänge am Freitagabend die Arbeit an den Nagel und sei dann nur noch für die Familie da, ganz egal, was los sei.
Fatboy Slim, Amal Clooney, Anti-McDonald's
"Einen Antipopulisten" nennt ihn sein Biograf Tom Baldwin, "Mr. Boring" ist er für andere. So oder so ist Starmer kein typischer Politiker oder Anwalt. Er wuchs in einfachen Verhältnissen in einem Reihenhaus am Stadtrand von London auf und lernte in der Schule zusammen mit Norman Cook, dem späteren DJ Fatboy Slim, Geige. Er spielte in einer Band namens Ugly Rumours und studierte später Jura – wobei er, für England ungewöhnlich, nur ein Jahr auf der Eliteuni Oxford war.
Als Menschenrechtsanwalt verteidigte er später Gewerkschaften, legte sich mit McDonald's an und setzte sich für zum Tode Verurteilte in der Karibik ein. Mit Amal Clooney ist er seit ihrer gemeinsamen Zeit in einer Kanzlei befreundet.
Ab 2003 waren Kollegen und Freunde überrascht, dass Starmer sich Richtung Establishment zu bewegen begann. Die damalige Labour-Regierung ernannte ihn zum Generalstaatsanwalt für England und Wales.
Feind oder Handlanger Corbyns?
Bis 2013 sorgte Starmer für die Strafverfolgung von Abgeordneten, die ihre Spesen missbrauchten, oder Journalisten, die Telefone abhörten. Königin Elizabeth II. schlug ihn zum Ritter, den Titel "Sir" verwendet er jedoch kaum.
2015 folgte das erste politische Amt, als er in einem linken Wahlkreis im Norden Londons ins Parlament gewählt wurde. Schon ein Jahr später beteiligte er sich an der erfolglosen Rebellion gegen den linken Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn, den er dann 2020 von der Spitze ablöste. Starmers Kampf gegen den Antisemitismus in der Partei führte schließlich zu Corbyns Ausschluss.
Der linke Flügel verzieh ihm das nie, die Konservativen dagegen stellen Starmer weiter als Handlanger Corbyns dar. Auch deshalb betont der Labour-Chef bei jeder Gelegenheit, dass er die Partei grundlegend reformiert und mit seinem Vorgänger gebrochen habe.
Labour-Erfolg: An Starmer liegt es nicht
Beobachter sind sich einig: Für den sich abzeichnenden Erfolg der Sozialdemokraten ist der Labour-Chef nur bedingt verantwortlich. Viele Wählende wüssten kaum etwas über ihn und die Ziele seiner Sozialdemokraten. Er habe einen "Plan des common sense", wiederholt Starmer gern. Wie dieser aussieht, wurde im Wahlkampf allerdings weder besonders klar noch greifbar.
Wo Starmer für seine Kritiker als farbloser Opportunist gilt, loben ihn seine Anhänger als pragmatischen Manager. Er werde seine Arbeit als Premier so unermüdlich und gründlich angehen wie seine juristische Laufbahn. "Man kriegt bei ihm den Politiker in den Juristen, aber nicht den Juristen aus dem Politiker", heißt es gern.
Schon am Samstag im Amt
Sicher ist, dass große Herausforderungen auf den 61-Jährigen warten. Als neuer Premier soll er die Wirtschaft ankurbeln, die Lebenshaltungskosten senken, die nationalen Gesundheitsdienste auf Vordermann bringen und sich der Migrationspolitik widmen – alles Dinge, die seine fünf konservativen Vorgängerinnen und Vorgänger nicht meistern konnten.
Für Starmer wird es jetzt Schlag auf Schlag gehen. Wenn spätestens am 5. Juli die erwarteten Wahlergebnisse bekannt gegeben werden, ist er bereits am Samstag im Amt und muss regieren – beginnend mit einer Reise nach Washington zum Nato-Gipfel.