Welt

"Anschlag in Hanau ist nur die Spitze des Eisbergs"

Gewaltforscher Dirk Baier sagt, warum sich in Deutschland rechtsextreme Gewalttaten häufen – und warum Zivilcourage im Kampf dagegen wichtig ist.

Heute Redaktion
Teilen

Dirk Baier ist der Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Im Interview erklärt er die Hintergründe des zunehmenden Rechtsextremismus und wie man damit umgehen sollte.

Herr Baier*, wie groß ist die Gefahr, die von Rechtsextremen in Deutschland ausgeht?

Deutschland hat ein zunehmendes Problem mit rechtsextremer Gewalt. Die Fälle von Straf- und Gewalttaten haben sich zwischen 2010 und 2016 – dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise – verdoppelt. Mittlerweile stagnieren sie auf hohem Niveau. 2017 registrierten die Behörden über 20.000 rechtsextreme Straftaten, davon 1.130 Gewalttaten. Der Anschlag in Hanau ist nur die Spitze des Eisbergs und zeigt das große Gewalt- und Tötungspotenzial von Rechtsextremen in Deutschland.

Woher kommt das Gewaltpotenzial?

Einerseits sind die rechten Netzwerke und Gruppierungen in der Bundesrepublik nie ganz verschwunden, wie auch die Fälle des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) oder einer 12-köpfigen Gruppe, die Anschläge auf Moscheen plante, zeigen. Andererseits fühlen sich immer mehr Bürger von der Politik abgehängt, weil etwa ihre migrationskritischen Positionen nicht berücksichtigt werden. Diese frustrierten Wähler wenden sich dann der AfD zu, wobei es wiederum falsch wäre, alle ihre Anhänger als Nazis zu bezeichnen. Fakt ist, dass das vergiftete politische Klima und die Frustration über die Nichteinbindung in die Politik in Einzelfällen zu weiterer Radikalisierung führen kann. Diese Menschen sagen sich dann: "Ich muss das Heft jetzt selber in die Hand nehmen."

Haben die Behörden die Gefahr unterschätzt?

Der Fokus lag in den letzten Jahren stark auf der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus und der Verhinderung solcher Anschläge. Da dort viele Ressourcen investiert wurden, kann es sein, dass die Behörden bei den Rechtsextremen weniger genau hinschauen konnten. Man muss aber auch sagen, dass spätestens seit dem Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke das Thema ganz oben auf der politischen Agenda steht.

Picture

Die deutsche Regierung will soziale Netzwerke stärker überwachen und höhere Strafen für Extremisten. Reicht das?

Nein. Das kann sicher ein Baustein in einer Strategie gegen rechtsextreme Gewalt sein. Es ist wünschenswert, diese Radikalisierungen im Netz frühzeitig zu erkennen. Genauso wichtig ist aber, dass das soziale Umfeld wachsam ist: Beim Täter von Hanau stellt sich die Frage, warum etwa seine Mutter, die ja auch unter den Todesopfern ist, seine Radikalisierung nicht erkannt und gemeldet hat. Im Kampf gegen den Rechtsextremismus muss auch die Zivilcourage gestärkt werden. Das soziale Umfeld hat eine Verantwortung dafür, bei extremistischem Gedankengut Alarm zu schlagen.