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Die gute Häfen-Mama und ihre 83 bösen Buben in Geras...

Heute Redaktion
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Bild: Daniel Schaler

Seit 15 Jahren kümmert sich Margitta Neuberger-Essenther um Mörder, Räuber, Vergewaltiger - viele ihrer meist 80 bis 90 "Kunden" sind Teenager und blutjunge Männer oder gar Kinder in einem Erwachsenen-Körper. Das Vielvölkergemisch in Gerasdorf (Neunkirchen) macht die Aufgabe der sanften Psychologin nicht leichter. "Heute" schaute sich den in Österreich einzigartigen Häfen ganz genau an.

Seit 15 Jahren kümmert sich Margitta Neuberger-Essenther um Mörder, Räuber, Vergewaltiger – viele ihrer meist 80 bis 90 "Kunden" sind Teenager und blutjunge Männer oder gar Kinder in einem Erwachsenen-Körper. Das Vielvölkergemisch in Gerasdorf (Neunkirchen) macht die Aufgabe der sanften Psychologin nicht leichter. "Heute" schaute sich den in Österreich einzigartigen Häfen ganz genau an.

"Heast, die Chefin kummt!", steckt Mohamed (17, alle Namen geändert) seinem Tischlerei-Kumpel Achmed (16) zu, als wir gemeinsam mit Leiterin Margitta Neuberger-Essenther und Stellvertreter sowie Pressechef Thomas Binder durch das acht Hektar große, ehemalige Schloss-Areal schlendern und fast alle der 14 Betriebe mit Lehrlingsausbildung besuchen: Bäckerei, Tischlerei, Malerei, Schlosserei, Kfz-Werkstatt, Karosseriebau, Küche, Gärtnerei, Frisör und Perückenmacher (aktuell drei Lehrlinge) - für die Burschen mit wenig bis null Ausbildung eine (vielleicht einmalige) Chance, zu einem ordentlichen Abschluss zu kommen.

Justizbeamter und Ausbildner Karl Ofner (43) arbeitet mit viel Hingabe mit den Teenagern: "Weil auch viel zurückkommt", sagt der 43-Jährige. Geschuftet wird von Montag bis Freitag zwischen 7.30 und 15 Uhr, dann ist Freizeit. In der Mittagspause wird gemeinsam in einem Speisesaal das Mittagessen verputzt - und dabei gilt ein Kapperlverbot. "Es ist einfach ein Akt der Höflichkeit beim Essen die Kopfbedeckung abzunehmen", erklärt die Gefängnisleiterin, die seit 36 Jahren im Strafvollzug arbeitet.

Viel Freizeitangebot

Von der Turnhalle, über einen Beachvolleyballplatz, Fußballplatz, ein Basketballfeld, Kraftkammer bis hin zur Kletterwand mit externem Sportlehrer - für Abwechslung in der Freizeit ist gesorgt. Wären nicht überall massive Gitter und das Areal nicht durch eine 1,2 Kilometer lange und über fünf Meter hohe Mauer abgeschirmt, es hätte fast Internats-Charakter.

Aber nur bis zum Abend, denn dann ist Einschluss in der Zelle - je nach Phase (gearbeitet wird mit einer Art Bonus-Malus-System von 0 bis 3) um 18, 20 oder 22 Uhr. Alle Hafträume sind mit einem Flachbildschirm-Fernseher ausgestattet, auch eine Playstation gibt es. Aber nur die Playstation 2 und nur Spiele mit einer Altersbeschränkung bis 14 Jahre. "Die 3er-Playstation hat schon einen USB-Anschluss. Klar sind die Burschen nicht glücklich, dass sie nur mit Kinderspielen zocken dürfen. Aber Gesetz ist Gesetz", erklärt die Gerasdorf-Chefin, die in der Nähe des Häfen ein Haus hat - gemeinsam mit ihrem Mann Gottfried Neuberger, dem Boss der Justizanstalt Schwarzau, nur wenige Kilometer von Gerasdorf entfernt.

Überhaupt seien Internet- und PC-Ausbildung im Digitalisierungszeitalter enorm wichtig. "Es gibt zwar einen Computerraum, aber ohne Internet. Für die Zukunft der Häftlinge sicher ein Nachteil. Aber das Gesetz ist nun mal so", so Margitta Neuberger-Essenther.

Die "Chefin" kennt alle ihre Kunden persönlich, teilt Schmähs oder Streicheleinheiten aus - ohne dabei nur den geringsten Zweifel aufkommen zu lassen, wer die Herrin im Ring ist. Der jüngste Insasse ist aktuell 15 Jahre, der älteste 26 Jahre alt. In Gerasdorf sind nur männliche Jugendliche, die zwischen dem 14. und 21. Lebensjahr eine Straftat begangen haben, untergebracht. Mit spätestens 27 Jahren müssen die Insassen, sofern noch eine Reststrafe offen ist, in ein Erwachsenen-Gefängnis verlegt werden. Es ist übrigens Österreichs einziger Häfen dieser Art: die jungen Männer haben alle Haftstrafen über 6 Monate abzusitzen. "Verbrechen ist männlich, weit über 90 Prozent der Insassen in ganz Österreich sind Männer", erklärt Essenther.

20 Mörder in Gerasdorf

"Der häufigste Delikt unserer Häftlinge in Gerasdorf ist gefährliche Drohung oder Körperverletzung sowie Raub", erklärt Neuberger-Essenther. Aber: Rund ein Fünftel der Insassen sitzt wegen § 75 StGB, Mord oder Mordversuch - und haben bis zu 15 Jahre abzusitzen und/oder eine Maßnahme.

In der Abteilung D (in den Abteilungen A bis C sind die restlichen Straftäter) sitzen die "ganz argen Fälle", die Maßnahmentäter. 14 Burschen werden derzeit in acht bis zehn Quadratmeter großen Einzelzellen (alle mit Flachbildfernseher und Nasszelle) festgehalten.

So wie Kevin (19), der gerade eine Ausbildung zum Facility Manager machen will. "Zehn Monate habe ich bekommen wegen einer gefährlichen Drohung. Das war vor über vier Jahren. Die Strafe habe ich längst abgesessen, jetzt werde ich einmal im Jahr von einem Gutachter angeschaut. Und der entscheidet, ob ich noch gefährlich bin oder nicht", erzählt der lange, hagere Bursche. "Ich bin offenbar noch eine Gefahr", so sein leiser Nachsatz.

"Kein Einzelfall. Einige unserer Insassen warten seit Jahren. Viele Gutachter trauen sich einfach nicht, den jungen Menschen eine Chance zu geben. Die Angst, dass dann doch etwas passiert und der Sachverständige dann zerrissen wird, ist einfach zu groß", erklärt Thomas Binder, der vor vier Jahren aus der Justizanstalt Sonnberg (Bezirk Hollabrunn) nach Gerasdorf wechselte und neben der Stellvertreter-Aufgabe noch zahlreiche andere Funktionen ausübt. Der aktuelle Fall von Deutsch-Wagram dürfte die Situation nicht gerade verbessern ().

Schwarzmarkt - Drogen in der Anstalt

Cem (20) hat ebenfalls eine Maßnahme: "Ich werde die Zeit nutzen und trainieren. Straffällig wurde ich durch lauter Blödsinn, Drogen und noch mehr Drogen und dann habe ich viel Scheiß gebaut", sagt der 20-Jährige Austro-Türke mit dem "ACAB"-Tattoo am (noch untrainierten) Bauch. Drogen in der Anstalt? "Klar, habe ich am Anfang auch hier in Gerasdorf genommen, man bekommt alles, vom Handy, USB-Stick bis hin zu Drogen. Gezahlt wird mit Tabak oder Schwarzgeld. Aber jetzt will ich fix clean bleiben", erklärt der 20-jährige Wiener. Die Anstaltsleiterin hat unser Gespräch mitbekommen, weiß ob des Schwarzhandels Bescheid: "Wir tun viel dagegen, aber ganz auszuschließen ist ein Schwarzmarkt in keinem Gefängnis." Beachtlich ist die Tatsache, dass es aktuell im ganzen Häfen nur einen Substitutions-Patienten gibt. "Gerade bei jungen Häftlingen ist das nicht notwendig. Wir setzten da auf eine sanfte Reduktionstherapie", sagt der Kinderpsychiater der Anstalt.

14 Nationen - Kampf zwischen Afghanen und Tschetschenen

Von den 83 Insassen (Stand 11. Februar 2017) sind zwölf Afghanen, zwei Algerier, einer ist Bosnier, einer Bulgare, ein Insasse ist aus Gambia, weiters sitzen zwei Marokkaner, ein Moldawier, drei Nigerianer, ein Rumäne, zwölf Russen (davon viele Tschetschenen), ein Bursche aus Somalia, ein staatenloser Häftling, ein Syrer, fünf Türken und 39 Österreicher. "Von den Österreichern haben viele einen internationalen Background", berichtet die studierte Psychologin Essenther und vermeidet bewusst das Wort Migrations-Hintergrund. "Klar gibt es Wickel - vor allem Afghanen gegen Tschetschenen. Das ist nicht viel anders als draußen", sagt Essenther. "Wir setzen da viel auf Aufklärung, viele wissen ja gar nichts über ihre Heimat", so die 58-Jährige.

Trotz der 14 verschiedenen Nationen gibt es ein Miteinander. "Ein Schwarzer, einige Muslime sind an diesem Tag gerade in der Kirche."  Der Grund: Der beliebte Anstaltspfarrer Bernhard Haschka ist da. Es wird getratscht, gesungen, Gitarre gespielt, gelacht. Einer der wenigen waschechten Österreicher, ein bulliger, junger Mann mit kurzer Hose in einer grellen Farbe und braunen Lederschlapfen begrüßt uns äußerst höflich, hält sich aber die ganze Zeit dezent im Hintergrund. Sein leicht melancholisch-grantelnder Blick und seine Mimik verraten: "Ich hätte viel zu erzählen. Es ist nicht alles super hier, aber es ist zum Aushalten."

Bereitwillig gibt man uns Auskunft, der "Heute"-Besuch stellt für viele Jungs eine willkommene Abwechslung dar. Ein junger Türke erzählt offen aus seinem Leben, über die Straftat (es war Mord) will er nicht reden, er schämt sich ein wenig. "Die Burschen kommen gerne in die Kirche, wegen dem Pfarrer. Mag. Haschka ist mehr als ein Pfarrer", streut Essenther Rosen. Für gläubige Muslime gibt es einen eigenen Raum - einen Mehrzweckraum. 50 Prozent der Häftlinge in Gerasdorf sind mittlerweile Muslime, rund 40 Prozent Christen, der Rest verteilt sich auf die übrigen Religionen.

Mehr Personal als Insassen

Seit 16. März 1970 gibt es die Sonderjustizanstalt Gerasdorf, Essenther ist seit 15 Jahren dort Leiterin. Für maximal 105 Insassen ist Platz im Häfen am Steinfeld - selten ist die Anstalt voll. 65 Beamte sind beschäftigt, 36 Sozialarbeiter, Ärzte, Psychologen, Lehrer, Ausbildner. "In Summe 101 Beschäftigte. Ein Luxus. Wir haben mehr Beschäftigte als Insassen. Ist aber gerade im Jugendstrafvollzug notwendig", erklärt der seit 32 Jahren in der Justiz beschäftigte Thomas Binder (54). Besuche gibt es bei Tisch oder übers Telefon mit Glaswand. "Bei Besuchszeiten sind wir großzügig, die Bindung nach draußen ist sehr wichtig. Einige arme Teufel haben aber niemanden", so Essenther.

14 Katzen leben am Gelände, schlafen in einem eigenen Cat-Container - werden vom Bäckermeister und Insassen versorgt. "Auch Therapiehunde kommen zum Einsatz", erklärt Essenther, ehe sie uns beim Ausgang verabschiedet. Dort hängen zwei Postkästchen - eines davon ist das Kummerkästchen. "Das sind Briefe von den Insassen, die landen direkt bei mir am Schreibtisch, ich lese alle", sagt die Häfen-Mutter, die natürlich rund um die Uhr für die Anstalt erreichbar ist.

Sozialer Umgang - richtig oder naiv?

Ihr sozialer Umgang bringt ihr aber auch immer wieder Kritik ein – Häme von der Gewerkschaft, harte Bandagen seitens der Medien. "Ich weiß, weil In rund zwei Wochen hole ich einen schweren Fall persönlich vom Spital ab. Ich kümmere mich gerne um meine Leute", sagt die 58-Jährige.

"Sicherheit durch Nähe und Vertrauen", lautet die Devise der Anstaltsleiterin. "Und ich begegne jedem Insassen mit Respekt. Denn wir verlangen immer Respekt von den Kindern und Jugendlichen. Aber wie sollen sie Respekt lernen, wenn sie ihn selbst nie erfahren?", sagt die Gefängnisdirektorin. Klingt fast kitschig, aber eines dürfte fix sein: Die "Chefin" und "Mama" hat ihr Schäfchen im Griff, der Laden läuft und läuft und läuft ... und über "Kundennachschub" braucht sich Margitta Essenther nun wirklich keine Gedanken machen – erst vor unserem Besuch hatte sich zwei Erstgespräche.

Reportage: Joachim Lielacher

Fotos: Daniel Schaler